Kasachstan:Feuer frei in Almaty

Kasachstan: Spuren der Gewalt: Ein Mann läuft in Almaty an einem ausgebrannten Bus vorbei. Der Machthaber von Kasachstan lehnt Gespräche mit der Protestbewegung seines Landes ab.

Spuren der Gewalt: Ein Mann läuft in Almaty an einem ausgebrannten Bus vorbei. Der Machthaber von Kasachstan lehnt Gespräche mit der Protestbewegung seines Landes ab.

(Foto: Valery Sharifulin/imago images/ITAR-TASS)

Der Präsident von Kasachstan weist die Armee an, "ohne Vorwarnung" auf Menschen zu schießen, die für Unruhe sorgen. Er nennt die Protestierenden "Terroristen".

Von Silke Bigalke

Die Armee soll das Feuer eröffnen, der Präsident von Kasachstan hat sie darum gebeten. "Ohne Vorwarnung", sagte Kassym-Schomart Tokajew bei der jüngsten seiner vielen Fernsehansprachen, dürften Sicherheitskräfte und Soldaten nun auf Menschen schießen, die im Land für Unruhe sorgen. "Terroristen", nennt er diese Leute, leider ist nicht ganz trennscharf, wen er damit alles meint.

Seit knapp einer Woche protestieren Tausende Kasachen in mehreren Städten des Landes gegen das politische Regime. Vor allem in Almaty kam es dabei zu heftigen Straßenschlachten zwischen Polizei und Protestteilnehmern. Gewaltbereite Gruppen plünderten Gebäude oder setzten sie in Brand, die Stadtverwaltung, die Residenz des Präsidenten, die Zentrale eines staatlichen Fernsehsenders. Tag und Nacht fielen Schüsse, das kasachische Staatsfernsehen berichtete am Freitagmorgen von 26 getöteten Demonstranten, außerdem sollen den Behörden zufolge 18 Polizisten ums Leben gekommen sein. Mindestens ein kasachischer Journalist ist unter den Toten.

Tokajew hatte die Protestierenden zu im Ausland ausgebildeten Terroristen erklärt. Die Demonstrationen deutete er in einen Angriff von außen um. Dabei begannen sie als friedliche Proteste gegen verdoppelte Treibstoffpreise und wuchsen durch den Frust vieler Kasachen über ein scheinbar unveränderliches autoritäres Regime. Warum sie die Demonstrationen Almaty derart schnell in Gewalt umschlugen ist nun eine von vielen offenen Fragen.

Tokajew behauptet, die Millionenstadt sei von 20 000 "Banditen" angegriffen worden. Diese müssten schnell "vernichtet" werden. Aufforderungen aus dem Ausland, die Sache friedlich zu lösen, bezeichnete er als dumm: "Was für Verhandlungen kann es mit Verbrechern und Mördern geben?" Unter denen, die Tokajews Schießbefehl scharf verurteilten, war auch Deutschlands Justizminister Marco Buschmann (FDP). "Wer ohne Vorwarnung auf Demonstranten schießen lässt, um zu töten, hat den Kreis zivilisierter Staaten verlassen", schrieb er auf Twitter.

Gab es Provokateure, und wer könnte sie geschickt haben?

Die Lage in Kasachstan bleibt zwar unübersichtlich, auch weil viele Internetseiten weiterhin nicht erreichbar sind. Beobachter stellen jedoch längst ganz andere Fragen als Tokajew. Die wichtigste ist, ob absichtlich gewaltbereite Gruppen unter die Protestierenden gemischt wurden - und wenn ja, von wem. Auffällig ist zumindest, dass das Regime sie recht lange gewähren, Geschäfte, Banken, den Flughafen plündern ließ. Provokateure in einen Protest zu schicken, um die Lage eskalieren und friedliche Demonstrierende wie eine Bedrohung aussehen zu lassen, wäre keine neue Taktik. Wem würde sie in Kasachstan nützen?

Kassym-Schomart Tokajew jedenfalls deutet den Protest nicht grundlos in einen vom Ausland unterstützen Angriff um. Denn mit diesem Argument rief er seine Partner in einem Militärbündnis um Hilfe: Die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB), die in ihrem knapp 20-jährigen Bestehen noch nie auf einen Hilferuf aus einem ihrer Mitgliedstaaten reagiert hat, schickte umgehend Truppen. Sie kommen aus Belarus, Armenien, Kirgistan, Tadschikistan und aus Russland, das das Bündnis anführt. Sie greifen nun ausgerechnet in einen Konflikt ein, der eigentlich ein innenpolitischer ist.

Diese Premiere wirkte noch merkwürdiger, weil ausgerechnet Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan dem Kasachen Tokajew die "kollektiven Friedenstruppen" zusagen musste, die nun den Protest unter Kontrolle bringen sollen. Armenien leitet das Sicherheitsbündnis derzeit turnusgemäß. Nikol Paschinjan ist nach Protesten in Armenien an die Macht gekommen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er selbst um Bündnishilfe gegen aserbaidschanische Truppen im Konflikt um die Region Bergkarabach gehofft - und keine bekommen.

Kasachstan: Präsident Kassym-Schomart Tokajew bei seiner Fernsehansprache, in der er größte härte gegen "Gesetzesbrecher" ankündigte.

Präsident Kassym-Schomart Tokajew bei seiner Fernsehansprache, in der er größte härte gegen "Gesetzesbrecher" ankündigte.

(Foto: Kazakhstan's Presidential Press Service/AP)

Umso schneller schickte nun vor allem Moskau Soldaten nach Almaty. Sie sollen bereits die Kontrolle über den Flughafen übernommen haben, auf den Straßen der Millionenstadt patrouillieren. Warum Putin diesmal reagierte, kann man leicht vermuten. Wahrscheinlich wollte er sich keinen weiteren Unruheherd in der Nachbarschaft leisten, kein weiteres Beispiel eines gestürzten Autokraten riskieren. Außerdem ist Kasachstan wegen seiner Ressourcen, seiner Größe und seiner Lage zwischen Russland und China besonders interessant für Moskau. Russlands Weltraumbahnhof Baikonur liegt dort. In Kasachstan machen Russen zudem etwa ein Fünftel der Bevölkerung aus.

Putins Unterstützung ist wichtig für Tokajew

Tokajews Verhalten ist schwieriger zu erklären. Indem er russische Soldaten einlädt, riskiert er eine Unabhängigkeit, die sich Kasachstan dreißig Jahre lang erhalten hat. Für Moskau bleibt der Aufwand überschaubar: Wichtiger als die Truppen selbst ist für Tokajew, dass Putin ihn öffentlich unterstützt. Damit sendet er ein Signal an alle kasachischen Soldaten, Beamten, Geheimdienstler, die womöglich in ihrer Loyalität schwanken.

Denn während die Proteste anhalten, passiert in Tokajews Machtapparat dieser Tage etwas ganz Entscheidendes: Er entthront Schritt für Schritt einen Mann, der einst viel mächtiger war als Tokajew heute, seinen Vorgänger Nursultan Nasarbajew. Von dem ist seit Tagen nichts zu hören und nichts zu sehen. Viele vermuten, er habe Kasachstan bereits verlassen.

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