Kasachstan:Ins Land der Kinderlieder

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Etwa 180 000 Deutschstämmige leben noch in Kasachstan, doch viele wollen gehen. Dabei gehört der Staat zu den reichsten in der Region - und tut neuerdings viel, um die Menschen zum Bleiben zu bewegen.

Von Frank Nienhuysen, Almaty

Wie oft sie wohl noch in diesen Raum kommt, der ihre Kunstwelt ist? Liza Kin wird sich bald verabschieden. Abstrakte Gemälde von ihr lehnen an der Atelierwand, rot und blau, ein anderes grüngelbschwarz, Farbtuben türmen sich zu bunten Hügeln oder liegen ausgedrückt auf dem Tisch verstreut. Auf einem Sessel liegt ein Buch von Erich Fromm, "Furcht vor der Freiheit", mehr erinnert hier nicht an Deutschland. Es ist eine russische Ausgabe, auf Deutsch wäre das Buch für die kasachische Malerin zu schwer zu lesen. Sie lernt die Sprache ihrer Vorfahren noch. Dreimal die Woche, je zweieinhalb Stunden. Büffeln für die Auswanderung. In den nächsten Wochen macht Liza Kin den Sprachtest, "danach werde ich wohl sehr schnell gehen", sagt sie. Von Kasachstan nach Deutschland. Fast 6000 Kilometer entfernt. Sie liegt damit im Trend.

Nach dem Ende der Sowjetepoche sind Hunderttausende Spätaussiedler nach Deutschland ausgewandert, aus Russland, aus Kasachstan, dann ging die Zahl radikal zurück. Jetzt steigt sie wieder, sanft, immerhin das fünfte Jahr in Folge. Im vorigen Jahr wurden in der Meldestelle Friedland 7134 Aussiedler registriert, viele von ihnen aus Kasachstan. Es sind deutlich weniger als in den 90er-Jahren, deshalb zeigt sich Deutschland etwas generöser. Familienangehörige können leichter nachgeholt werden, der Sprachtest wurde vereinfacht.

Liza Kin lebt in Almaty, der größten Stadt in dem zentralasiatischen Land. Kin ist hier ein ungewöhnlicher Name, er hat ja auch einen deutschen Ursprung. Kühn hieß er einst, irgendwann wurde er zu Kin geknetet. In Kasachstan gilt Kin als Deutsche, wie 180 000 andere, die deutsche Vorfahren haben. Sie haben kasachische Pässe, aber in der Zeile Nationalität steht "Deutsch" eingetragen.

Warum geht Liza Kin, wenn sie doch sagt, "ich habe hier alles: ein Studio, ein Auto, eine Wohnung, Freunde"? Es geht nicht um Flucht vor einem Krieg, auch nicht um materielle Sicherheit. Das ölreiche Kasachstan ist das reichste Land in der Region, in Almaty gibt es Massen von hippen Cafés, Lounges, Restaurants, die sie sich leisten kann. Und wie es in Deutschland genau sein wird, das weiß sie ja selbst noch nicht genau. Sie sagt, sie renne nicht weg, "ich wage einen neuen Schritt. Ich habe etwas Angst, aber es ist eine Chance. Ich habe nur ein Leben."

Aufstrebende Metropole: Die Hauptstadt Astana ist voll von hippen Cafés, Lounges, Restaurants. Doch vielen Kasachstandeutschen wird es trotzdem zu eng in der unfreiwilligen Heimat ihrer Vorfahren. (Foto: Taylor Weidma n/ Bloomberg)

An Berlin schätzt sie die "andere Atmosphäre in der Kunst", die vielen Galerien, die Bedeutung abstrakter Malerei. Auch die Mülltrennung erwähnt sie, die "in Kasachstan erst am Anfang steht", sie spricht von Kleidung, "die in Deutschland weniger Statussymbol ist als hier". Ihre Sorge: dass sie vielleicht gar nicht willkommen sein könnte, wo doch in Deutschland schon so viele Flüchtlinge integriert werden müssten. Und Druck, schnell einen Job zu finden, trotz des Ersparten, den verspürt sie auch. Sie sagt, "es kann hart werden". Sie kennt nicht viele Geschichten von ausgewanderten Kasachstandeutschen, "die superhappy sind", sagt sie. "Aber ich kenne auch wenige, die zurückwollen."

Ein Deutschtest ist Pflicht, aber man kann ihn beliebig oft wiederholen

Liza Kin zeigt keinen Drang, ihr bisheriges Land zu kritisieren, in dem es keine Opposition im Parlament gibt, das autoritär geführt wird und trotzdem für die Verhältnisse in der Region als relativ offen gilt. Nur dies: "Es ist schwer, hier eine große Karriere zu machen; wenn irgendjemandem deine Geschäfte nicht gefallen, kann er sie leicht durchkreuzen." Bis vor wenigen Wochen lebte sie unverheiratet mit Freund und Kind, in der Künstlerszene hat sie Kontakte zu Schwulen; sie sagt, "wer ein anderes Leben führt, wird von der Gesellschaft schwer akzeptiert".

Die deutschen Behörden prüfen ihre Dokumente, den Nachweis deutscher Vorfahren, die einst aus dem russischen Nowosibirsk nach Kasachstan deportiert wurden. Auch ein Sprachtest ist Pflicht, aber das ist für die meisten Kasachstandeutschen keine allzu große Hürde. Die Ansprüche sind gesenkt worden, und die Prüfung kann man jetzt beliebig oft wiederholen. Liza Kin war ein paar Mal in Deutschland, hat Freunde dort, sie wuchs mit deutschen Kinderliedern auf. Viel mehr war ihr all die Jahre von der Sprache nicht geblieben als diese Lieder. Ihr Großvater hatte noch Deutsch gesprochen in seiner Kindheit, aber schon ihre Eltern mussten es regelrecht lernen. Geblieben sind sie dennoch.

Es wird ja auch einiges getan in Kasachstan, um Deutschstämmige zum Bleiben zu bewegen. Es gibt eine deutsch-kasachische Universität, ein deutsches Theater, Kulturzentren, die Deutsche Allgemeine Zeitung. Und es gibt Albert Rau. Er ist Abgeordneter im kasachischen Parlament, Vorsitzender der Gesellschaft "Wiedergeburt", ein Mann mit deutschen Wurzeln, der in Kasachstan die Interessen der deutschen Minderheit vertritt. Wenn er von der Einwanderungswelle spricht vor mehr als zwei Jahrzehnten, die für Kasachstan eine bittere Auswanderungswelle war, sagt er, "die Tür war uff". Einer nach dem anderen ging damals fort, allein aus der Stadt, in der Rau einst Bürgermeister war, sind 5000 Deutschstämmige ausgewandert. Jetzt wäre er froh, wenn viele blieben.

Er will nicht drängen, er sagt, "wer gehen will, der geht sowieso". Aber er kämpft dafür, dass es denen, die bleiben, möglichst gut geht. "Es wird niemandem mehr verboten, Deutsch zu studieren oder in die Kirche zu gehen. Aber man muss sie ermuntern", sagt Rau. Er nimmt im Restaurant sein Handy vom Tisch und zeigt das Bild einer lutherischen Kirche, die er als Unternehmer in Astana gebaut hat. "Sehen Sie, ich kann mich hier verwirklichen", sagt er.

Seine Gesellschaft "Wiedergeburt" erhält Unterstützung vom Bundesinnenministerium. Der kasachische Staat wiederum hat in einem Abkommen versprochen, den Deutschen im Land möglichst gute Bedingungen zu bieten. Rau empfindet es als kleinen Sieg, dass seit September für Erstklässler nicht mehr Englisch Pflicht ist, sondern "Fremdsprachen". Es kann also auch Deutsch sein. Nur sind viele Deutschlehrer längst in Deutschland gelandet, es braucht Nachwuchs, die Mittel für Stipendien werden deshalb nun erhöht. Rau sagt, "wir brauchen deutsche Lehrbücher".

Aber trotz aller Angebote, die es schon gibt und die noch kommen sollen: Es ist alles doch ein wenig komplizierter, und nicht alle Deutschstämmigen verstehen sich als Brückenbauer zwischen den Ländern. Viele Kasachstandeutsche lesen die deutschsprachige Zeitung gar nicht, von den knapp 600 Studenten der deutsch-kasachischen Universität sind weniger als zehn Prozent Kasachstandeutsche. "Sie sind kaum sichtbar", ist zu hören.

Das deutsche Theater hätte fast geschlossen, jetzt tourt es sogar durchs Ausland

Als in Almaty eine Galerie zu einer Ausstellung mit dem deutschen Fotografen Dieter Seitz einlädt, sind unter den Besuchern der deutsche Generalkonsul, der Rektor der deutsch-kasachischen Universität, eine Redakteurin der deutschsprachigen Zeitung, ein deutscher Hotelbesitzer, interessierte Kasachen. Kasachstandeutsche kaum. Viele von ihnen leben ohnehin im Norden des Landes, in der Industriestadt Karaganda etwa, die schon bessere Zeiten erlebt hat und nicht das optimistische Flair von Almaty verströmt. Wer nach Deutschland will, weil er dort mehr Chancen sieht, Verwandte hat, der redet nicht unbedingt groß drüber. Sondern macht Sprachkurse, legt die Dokumente vor, wartet auf die Entscheidung, und geht.

Einst wurden ihre Vorfahren deportiert: Russlanddeutsche Frauen mit Kopftüchern auf einer Dorfstraße im Jahr 1992. (Foto: Jochen Eckel/SZ Photo/laif)

Almaty, ein in die Jahre gekommenes Gebäude außerhalb des Stadtkerns: Wuchtige Bäume am Eingang, "Republikanisches Deutsches Dramatisches Theater" steht in schwarzen Buchstaben auf einem querliegenden Stahlträger. An der Säule auf Kyrillisch KACCA, darunter auf Deutsch "Theaterkasse". Zu Natascha Dubs geht es vorbei an Wandporträts von Bertolt Brecht und Pina Bausch. Dubs ist die Leiterin des deutschen Theaters, das nun schon in die 38. Saison geht, nachdem die große Auswanderungswelle fast zur Schließung geführt hätte. "Das Theater war damals leer", sagt sie. Jetzt wird es vom kasachischen Kulturministerium finanziert, auch das Goethe-Institut beteiligt sich an Projekten und Stücken, bezahlt für Kostüme, das Bühnenbild.

Dubs sitzt im Proberaum, an einer Tafel steht mit Kreide "Fischers Fritz fischt frische Fische. Frische Fische fischt Fischers Fritz." Das Wort "Firscher" ist durchgestrichen - eine etwas fiese Wortübung für die 24 Schauspieler, von denen fünf Deutsch frei sprechen. Das Repertoire: Keine deutsche Folklore, stattdessen Brecht, Wedekind, Goethe, Botho Strauß, Roland Schimmelpfennig. Auch Gogol und Tschechow. Die meisten Stücke werden auf Deutsch gespielt, andere auf Russisch.

Das Theater tourt im Ausland, oft auch durch das kasachische Land, das größer ist als fast alle anderen Staaten der Erde. Dubs sagt, "wir machen die Leute mit deutscher Literatur bekannt". Es ist ein erfolgreiches Theater, es gilt als innovativ, die Aufführungen sind gut besucht, es gibt viel Applaus. "Wir sind eine Brücke zwischen dem deutschen und dem kasachischen Theater", sagt sie. Aber es musste sich auch anpassen an neue Zeiten. "Das Theater hat sich verändert", sagt Dubs. "Früher war es traditioneller, es gab mehr Stücke über das Schicksal der Deutschen in Kasachstan." Und es gab das entsprechende Publikum. Heute sind viele, die sich betroffen fühlen, gar nicht mehr im Land.

© SZ vom 20.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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