Kartografie:Berg, Land, Fluss

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Der britische Bestseller-Journalist Tim Marshall hält die Geografie für wichtiger als die Politiker. Seine Weltreise ist sehr unterhaltsam, die Landkarten sind es weniger.

Von Werner Hornung

Manchmal genügt es, die Welt mit einer anderen Brille zu sehen. Oder besser gesagt, es hilft, wozu der französische Schriftsteller Marcel Proust (1871 - 1922) geraten hat: "Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen." Der englische TV-Journalist Tim Marshall hat das ebenfalls bemerkt, hat bei seinen zahlreichen Auslandsreisen näher hingeschaut. Unterwegs ist ihm aufgefallen, dass Gebirge wie das Himalaja-Massiv zwischen China und Indien, Flüsse wie der Nil, weite Ebenen oder Wüsten wie die Sahara das politische Leben wesentlich bestimmen. Ausführlich beschrieben hat er diesen Zusammenhang unter dem Titel "Die Macht der Geographie" in einem Buch, das 2015 in Deutschland zum Bestseller wurde.

Einzelfehlerquelle für ein globales System: Das Containerschiff "Ever Given" blockierte im März den Suezkanal und damit den Welthandel. (Foto: AP)

Damit wurde im Buchhandel eine Lücke gefüllt, denn populärwissenschaftlich verfasste Literatur zur Geopolitik gab es hierzulande bisher kaum. Außerdem versprach der Untertitel auf dem Cover den Lesern einen schnellen und anschaulich gestalteten Durchblick für die globale Unübersichtlichkeit: "Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt". Und jetzt ist es wie so oft im Kino, auf den erfolgreichen ersten Film folgt ein zweiter. Tim Marshalls eben erschienene Fortsetzung im Buchformat heißt: "Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert. 10 Karten erklären die Politik von heute und die Krisen der Zukunft".

"Die Geographie bestimmt, was der Mensch erreichen kann"

Es ist eine Erweiterung des ersten Bandes, die gleichfalls in zehn Kapitel gegliedert ist. Den Anfang machen Länderporträts zu Australien, zu Iran, zu Saudi-Arabien und zum Vereinigten Königreich, dann folgen noch welche zu Griechenland, zur Türkei und zur Sahelzone, zu Äthiopien und Spanien, abschließend findet sich ein informativer Blick in den Weltraum. Dabei verdeutlicht der Autor an Beispielen seine These: "Die Geographie ist ein entscheidender Faktor, weil sie bestimmt, was der Mensch erreichen kann und was nicht. Ja, Politiker sind wichtig, aber die Geographie ist noch wichtiger. Die Entscheidungen, die Menschen treffen, lassen sich weder jetzt noch in der Zukunft völlig vom geophysikalischen Umfeld abtrennen."

Blättern wir exemplarisch das Griechenland-Kapitel auf. Vorneweg nennt Tim Marshall die zwei landschaftlichen Besonderheiten, die für ihn zum Verständnis des politischen Geschehens in Hellas wichtig sind: die vielen Berge und das Meer samt seiner 6000 Inseln. So erklärt sich für ihn seit den Tagen des antiken Geschichtsschreibers Thukydides die "Zersplitterung des Landes" und das Misstrauen der verschiedenen Regionen gegenüber Athen. Diesen Zusammenhang erwähnt er immer wieder, im fortlaufenden Text geht er allerdings ausführlicher auf die Etappen der griechischen Geschichte ein. Dabei reiht er erzählend mythische und historische Ereignisse aneinander: vom Göttervater Zeus auf dem Olymp bis hin zum gegenwärtigen Streit mit der Türkei wegen Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer. Soziale Aspekte interessieren ihn weniger, es dominieren Geopolitik und Geschichtsfakten. Das ist übrigens in den anderen Länderporträts ähnlich.

Separatisten in Bayern? Ja, bei Marshall schon

Tim Marshall: Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert. 10 Karten erklären die Politik von heute und die Krisen der Zukunft. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. dtv, München 2021. 412 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Eine trockene Lektüre ist das nicht, im Gegenteil. Manche Zeilen klingen selbst in der Übersetzung noch very british. Tim Marshall kann pointiert formulieren, wird gar zum Poeten des Boulevard-Journalismus, wenn er etwa textet: "Die Äthiopier fummeln am Wasserhahn rum" (gemeint ist der Nil); und ein paar Seiten weiter ist zu lesen, dass Äthiopien "die Gitterstäbe seiner geographischen Gefangenschaft aufbiegen" kann. Selbst Polit-Klatsch scheut der Autor nicht. Im Spanien-Kapitel berichtet er von Generalissimo Francos Tochter; ein tollpatschiger Parteifreund hat ihr bei der Jagd versehentlich ins Gesäß geschossen. Dazu passend sei sein kürzester Kommentar (freilich zur aktuellen Situation in Großbritannien) zitiert: "Autsch!"

Gar nicht amused sind wir dagegen von den zehn Karten, die laut Titelseite "die Politik von heute und die Krisen der Zukunft" erklären sollen. Es sind Doppelseiten mit skizzierten Ansichten der jeweiligen Staaten: ziemlich inhaltsleer und grau in grau gestaltet. Jedes Kartenblatt im Diercke-Weltatlas oder in Putzgers Historischem Weltatlas liefert da mehr und farbige Orientierungshilfe. Schließlich gibt es noch einige kleinere thematische Karten, die übers ganze Buch verteilt sind. Eine davon zeigt beispielsweise, wo in Europa häufig Separatisten auftreten. Die winzig gedruckten Namen der dunkel markierten Regionen wie Katalonien, Schottland oder Bayern sind nur schwer zu entziffern. Ja, Bayern wird tatsächlich genannt. Auch ohne Brille sieht man in Deutschland kartografisch eingefärbt einen großen schwarzen Fleck, weil hier viele Separatisten agieren sollen.

Werner Hornung bespricht seit über fünfzig Jahren politische Bücher und kartografische Literatur.

© SZ vom 25.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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