Karneval:Narrenspiegel

Der Spott im Karneval richtet sich zu Recht auf das eigene Land.

Von Christian Wernicke

Der Karneval dient nicht nur als Alibi, um tief ins Glas zu schauen. Zum historischen Sinn und profunden Zweck des Treibens gehört es, den Mächtigen den Narrenspiegel vorzuhalten. Insofern verkörpern die Jecken einen Teil deutscher politischer Kultur. Niemand auf der Welt darf gegen ihren rheinischen Spott gefeit sein: Kein türkischer Machthaber (diesmal als Kerkermeister karikiert), kein nordkoreanischer Diktator (der mit einer Atomrakete tanzt) und schon gar kein amerikanischer Präsident (der mit seinem Golfschläger Klimaschutz und den blauen Planeten zertrümmert). Das war so, das bleibt so.

Erfrischend neu jedoch ist der Hohn, den diesmal die eigene politische Klasse abbekam. Ob die AfD zum "Gau-Land" von Zwergen wird oder FDP-Chef Christian Lindner mit vollen Hosen vor Jamaika flüchtet - beides trifft. Als AB-Maßnahme für Karnevalisten dienten die SPD und ihr Ex-Hoffnungsträger Martin Schulz (der sich in Düsseldorf eigenhändig durch den Fleischwolf drehte). Auch das Gefühl, dass die Zeit der Kanzlerin abläuft, fingen die Narren ein: Angela Merkel, "die Letzte ihrer Art", tauchte in Mainz als schildkrötiges Fossil auf.

Der Narrenspiegel reflektiert, wie die Monate seit der Bundestagswahl das Selbstbild der Bundesbürger verändert haben: Die "moralische Weltmacht" und der "Europameister Deutschland" erkennen eigene Schwächen. Der Spott weist den Weg - zu Selbstironie und mehr Bescheidenheit.

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