Auf den ersten Blick sieht es nach einer Niederlage der Opposition aus - doch es ist zumindest ein Teilerfolg für FDP, Grüne und Linke. In einem am Freitag veröffentlichten Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht zwar einen Eilantrag abgelehnt, mit dem die Opposition erreichen wollte, dass das neue Wahlrecht bei der Bundestagswahl im September nicht angewendet wird.
Doch in ihrem Beschluss lassen die Karlsruher Richter gleich an mehreren Stellen Zweifel am geänderten Wahlrecht erkennen. Die von der großen Koalition beschlossene Reform soll jetzt im Hauptverfahren genau geprüft werden.
Nach jahrelangen Debatten hatten Union und SPD 2020 im Alleingang das neue Wahlrecht zur Verkleinerung des Bundestags beschlossen. Die Regelgröße des Parlaments liegt bei 598 Abgeordneten, derzeit sind es aber 709. Und es sind Wahlergebnisse denkbar, bei denen die Zahl der Sitze auf mehr als 900 steigt.
Vom neuen Wahlrecht profitiert vor allem die Union
Nach Ansicht der Opposition erfüllt das neue Wahlrecht jedoch seinen Zweck nicht - auch mit den neuen Regeln könnte der Bundestag weiter wachsen. Außerdem beklagen Grüne, FDP und Linke die Instrumente, derer sich die große Koalition bedient. Dabei geht es vor allem um die Überhangmandate. Bisher wurden Überhangmandate für eine Partei vollständig durch Ausgleichssitze für die anderen Parteien kompensiert.
Änderung des Wahlrechts:Bundesverfassungsgericht weist Eilantrag von Grünen, FDP und Linken ab
Die drei Oppositionsparteien hatten die Richter in Karlsruhe angerufen, weil sie die Wahlrechtsreform der großen Koalition für verfassungswidrig halten.
Das neue Wahlrecht sieht nun aber vor, dass bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Davon profitieren vor allem die Unionsparteien - bei der letzten Bundestagswahl erzielten CDU und CSU 43 der insgesamt 46 Überhangmandate.
Die Opposition beklagt deshalb, dass durch das neue Wahlrecht die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag verzerrt werden könnten. Außerdem moniert sie, dass die neuen Normen nicht klar genug gefasst seien. Zum Beispiel sei nicht eindeutig geregelt, ob es bis zu drei unausgeglichene Überhangmandate je Bundesland, je Partei oder bundesweit auf alle Parteien bezogen geben solle.
Selbst Experten klagen, das Wahlrecht sei zu kompliziert
Bereits bei der Anhörung zum neuen Wahlrecht im Bundestag hatten Experten beklagt, dass das Wahlrecht derart kompliziert sei, dass kaum noch ein Bürger verstehe, was seine beiden Stimmen letztlich bewirkten. Ausgerechnet das Wahlrecht als wichtigste demokratische Äußerungsform habe dadurch einen entdemokratisierenden Effekt.
Interview am Morgen: Wahlrechtsreform:"Verzerrung des Wählerwillens"
Klagen die Grünen in Karlsruhe gegen das neue Wahlrecht? Grünen-Politikerin Haßelmann erläutert, warum sie das Gesetz für verfassungsrechtlich problematisch hält - und warum sie so oft mit FDP und Linken zusammenarbeitet.
In dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts heißt es nun, die in der Hauptsache gestellte Normenkontrollklage der Oppositionsabgeordneten sei "weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet". Es erscheine insbesondere "nicht von vornherein ausgeschlossen", dass Regelungen im neuen Wahlrecht "gegen das Bestimmtheitsgebot und das Gebot der Normenklarheit verstoßen". Die Klage der Opposition erscheine zudem "auch hinsichtlich der Verletzung der Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien nicht als offensichtlich unbegründet".
Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann, sagte, das neue Wahlrecht "schanzt der CDU durch die unausgeglichenen Überhangmandate einen Mandatsbonus zu". Außerdem sei es "so schlecht formuliert, dass nicht klar ist, wie aus einem konkreten Wahlergebnis eine konkrete Zusammensetzung des Bundestages abzuleiten ist". Diesen beiden Argumenten der Opposition habe "das Bundesverfassungsgericht heute Stichhaltigkeit attestiert".
Für die Grünen ist das neue Wahlrecht "ein großer Bluff"
Die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, Britta Haßelmann sagt, die Karlsruher Richter hätten "klargemacht, dass unsere verfassungsrechtlichen Bedenken Gewicht haben und einer Klärung bedürfen". Unabhängig von der juristischen Entscheidung bleibe eine weitere zentrale Kritik bestehen: Das neue Wahlrecht verfehle "sein eigentliches Ziel, die Größe des Bundestages effektiv und dauerhaft zu begrenzen". Es sei deshalb "ein großer Bluff".
Der Justiziar der Unionsfraktion, Ansgar Heveling, sagte dagegen, er sei der festen Überzeugung, dass sich in Karlsruhe am Ende herausstellen werde, "dass unsere Reform mit der Verfassung vereinbar ist".