Karlsruhe:Szenenapplaus in der Gedankenfabrik

Tag der offenen Tür im Bundesverfassungsgericht

Damit keiner der 5000 Besucher hinterher sagen konnte, er habe nichts von dem Besuch im Verfassungsgericht mitgenommen, bekam jeder einen Apfel.

(Foto: Uli Deck/dpa)

Mit einem Bürgerfest feiert das Bundesverfassungsgericht 70 Jahre Grundgesetz.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Die erste Frage brachte Johannes Masing dann doch kurz ins Stocken. Hätte man ihn gefragt, wie es um das Verhältnis der deutschen und der europäischen Grundrechte bestellt ist: Der Verfassungsrichter hätte aus dem Stand eine Stunde referieren können, schon deshalb, weil er zuletzt intensiv an so einem Fall gearbeitet hat. Oder zur heiklen Balance zwischen Freiheit und Sicherheit - für Masing wäre es kein Problem, darüber einen Vortrag in jeder gewünschten Länge zu halten. Aber an diesem sonnigen Karlsruher Samstagvormittag saßen in der Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts ganz normale Menschen, weshalb die Moderatorin erst einmal eines wissen wollte: Was macht Ihnen an Ihrer Arbeit eigentlich Spaß?

Fragen wie diese darf man stellen an einem "Tag der offenen Tür", es kommt ja nicht oft vor, dass die Bürger ins Bürgergericht am Karlsruher Schlossplatz eingeladen werden. Genau genommen, ist es erst die dritte Veranstaltung dieser Art. 2001 hatte Jutta Limbach zum 50. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts die Pforten geöffnet, vor vier Jahren lud das Gericht zum Bürgerfest anlässlich der Wiedereröffnung des frisch renovierten Gebäude-Ensembles von Paul Baumgarten. Und nun ein Fest zum Grundgesetzjubiläum, mit Buden, Big Band und eben mit Richtergesprächen. Johannes Masing zog sich übrigens achtbar aus der Affäre und erklärte, es sei vor allem die differenzierte Arbeit an immer neuen, komplexen Problemen, die ihm, nun ja, Freude bereite.

Sonst kennt man die Richter ja nur in roten Roben mit Bäffchen und Barett: eher Amtsträger als Person

Der Blick hinter die Kulissen eines Gerichts ist nicht so spektakulär wie in einer Fabrik für, sagen wir, Flugzeugbau. Produziert werden letztlich nur Gedanken, die in Schriftform festgehalten werden. So ist der mythische Ort des Gerichts - das Beratungszimmer - vergleichsweise unspektakulär. Ein quadratischer Tisch mit acht Sesseln, weit genug von einander entfernt, um sich nicht zu eng auf der Pelle zu sitzen, aber so nah, dass man Aug' in Auge diskutieren kann. Dort also, zwischen Regalen mit den Urteilsbänden und dem Bundesgesetzblatt, sitzen und streiten die Richter stundenlang um das richtige Ergebnis, verbindlich im Ton, aber bisweilen beinhart in der Sache. Wer intellektuell nicht mithalten kann, den lässt man das spüren; das Beratungszimmer ist der Ort dafür, denn nichts dringt nach draußen. Es gilt das eherne Beratungsgeheimnis.

All das kann man nicht sehen. Aber es erzählt etwas über das Gericht, wenn man den Richtertrakt zu sehen bekommt, angelegt wie ein Kreuzgang mit zwei Etagen - das strahlt Kontemplation aus.

Das ist natürlich ein Eindruck, den das Gericht oft und gern vermittelt. Sieben Frauen und neun Männer beugen sich ernst und nachdenklich über die wichtigen Probleme unserer Zeit, sie denken, wägen, diskutieren. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle hatte schon Tage zuvor mit einem bemerkenswerten Fernsehauftritt in der ARD den Ton gesetzt: Wir ringen um die richtige Lösung. In diesem Sinne erlaubte auch Masing einen kleinen Einblick in die hohe Kunst der Urteilsfindung. Wer zum Beispiel mehr Verbote rechtspopulistischer Kundgebungen fordere, der müsse immer daran denken, dass dieselben Maßstäbe auch fürs linke Spektrum gälten. Kurz darauf erläuterte Henning Radtke, wie 16 Richter 6000 Verfahren im Jahr wegschaffen. Klare Fälle würden von den Dreier-Kammern abgelehnt, und zwar ohne Begründung, weil es leichter sei, sich auf ein Nein zu einigen als auf die gemeinsame Begründung für ein Nein. Es folgte ein politischer Seitenhieb, weil die AfD dem Gericht eine durchgängige Begründungspflicht aufdrücken möchte. Wer dies fordere, so Radtke, der wolle das Gericht lahmlegen.

Insgesamt 5000 Besucher drängten sich den Tag über durchs Gericht, immer auf der Suche nach einem echten Richter. Sonst kennt man sie ja nur in roten Roben mit Beffchen und Barett: seltsam neutralisiert, eher Amtsträger als Person. Nun aber pflügte Vizepräsident Stephan Harbarth tapfer mit ein paar Besuchern im Schlepptau durch die Menschenmassen im Gericht. Schon am Vortag konnte man beim Bürgerfest Ulrich Maidowski mit jungen Leuten über Umweltschutz diskutieren sehen. Und Peter Huber, sonst fürs Europarecht zuständig, sagte die nächste Band an.

Aber wie ist das nun mit dem Bürgergericht? Wie ist das mit dem Grundgesetz als DNA der Gesellschaft? Der überbordende Verfassungsjubel hat ja auch etwas vom Pfeifen im Walde: Je unsicherer die Zeiten, desto mehr feiern wir Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde. Insofern hatte der Top-Act der Feier auch etwas Trotziges. Das Berliner Maxim Gorki Theater führte auf den Balkonen des Gerichts die Produktion "Grundgesetz - ein chorischer Stresstest" der Regisseurin Marta Górnicka auf. Der Text der wichtigsten Artikel wurde rezitiert und rhythmisiert, gesungen, gesprochen, gerufen - von Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft. Das Diskriminierungsverbot wurde beklatscht, ebenso das Asylrecht; Szenenapplaus für Grundrechte, wann gab es das je? Für einen Moment nahm die Wucht der Performance dem Gericht alle Förmlichkeit - und mündete in einen "patriotischen Tanz" vor dem Gericht.

Das war starke Symbolik. Am Abend zuvor konnte man indes, 300 Meter entfernt auf dem Schlossplatz, das Grundgesetz im Wirklichkeitsmodus besichtigen. Es spielte die Lautenbacher Blaskapelle, geleitet vom Karlsruher Musiker Jos Rinck, eine Band überwiegend aus Musikern mit Down-Syndrom. "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden", heißt es in Artikel 3. In Wahrheit ging es hier aber gar nicht um die Schwächen, sondern um die Stärken dieser - da stimmt es wirklich - Andersbegabten. Um die Lebensfreude und Begeisterungsfähigkeit in der Musik, die in philharmonischer Perfektion oft erstickt. Das Publikum war hingerissen. Das war ein echtes Geschenk zum Siebzigsten.

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