Süddeutsche Zeitung

Karlspreis:"Die mutigsten Frauen Europas"

In ihrer Heimat Belarus werden sie verfolgt, in Aachen werden sie für ihr Engagement für die Demokratie geehrt: Swetlana Tichanowskaja und zwei weitere Oppositionelle erhalten den Karlspreis. Über eine denkwürdige Zeremonie.

Von Christian Wernicke, Aachen

Auf den ersten Blick ist klar, dass es diesmal anders zugehen wird im ehrwürdigen Krönungssaal des Aachener Rathauses. Frauen dominieren das Podium, wo sonst seit 1950 meist ergraute europäische Staatsmänner saßen und sich gegenseitig auf die Schultern klopften für ihren Beitrag zur Einigung des Kontinents. An diesem Himmelfahrtstag hingegen ehrt das Direktorium des Karlspreises gleich drei Frauen unter 40 - und erstmals drei Europäerinnen, die als Bürgerrechtlerinnen aufbegehrten gegen Gewalt und Willkür der Herrschenden.

Vor der grauen Saalwand sitzen, während barocke Musik ertönt, Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Tatsiana Khomich. Khomich hält während des zweistündigen Festaktes in ihrer linken Hand ein Bild ihrer Schwester Maria Kolesnikowa. Sie, die eigentlich dritte im Bunde der Anführerinnen der demokratischen Volksbewegung von Belarus, sitzt daheim in einer Zelle, verurteilt zu elf Jahren Haft vom Lukaschenko-Regime in Minsk.

Es ist, für Aachen wie für Europa, eine Zeitenwende. Auch die erste Rednerin ist eine Frau. Aachens grüne Bürgermeisterin Sibylle Keupen erklärt, dass der Karlspreis - angesichts der Unterdrückung in Belarus und des russischen Kriegs in der Ukraine - ein Zeichen gesetzt habe. "Das Direktorium mischt sich ein und ergreift eindeutig Partei," erklärt sie den knapp 600 geladenen Gästen, "für ein Europa der Freiheit und der Demokratie." Das sei auch ein "Signal an eine ermüdende europäische Gesellschaft," deren Werte "durch den Gleichmut vieler Bürger gefährdet sind".

Quasi über Nacht wurde Tichanowskaja zur Oppositionsführerin

Dann tritt, ganz in Schwarz, Annalena Baerbock ans Mikrofon. "Wenn Du weißt, warum Du lebst, ist es egal, wie", zitiert Deutschlands Außenministerin aus einem Brief der in Belarus inhaftierten Maria Kolesnikowa an ihren Vater. Baerbocks Stimme bricht kurz, aber sie fängt sich und wendet sich an Swetlana Tichanowskaja, jene Hausfrau und Mutter, die nach der Verhaftung ihres Ehemanns Sergej vor knapp zwei Jahren in die Politik geschleudert wurde - und plötzlich selbst als Oppositionsführerin gegen Machthaber Alexander Lukaschnko antrat. Inzwischen lebt Tichanowskaja im Exil. "Es ist die Freiheit von uns allen, der ihr euch verschrieben habt," sagt Baerbock. "Euer Mut lässt sich nicht wegsperren. Die Idee der Freiheit kann man nicht ins Exil vertreiben."

Fast eine Viertelstunde lang spricht Baerbock nicht zum großen Saal - sondern zu den drei Frauen auf dem Podium. Man kennt sich aus mehreren Gesprächen, duzt sich längst. In einem Nebensatz deutet sie an, dass die Belarussinen ihr selbst Mut gemacht hätten, als sie im Bundestagswahlkampf als Spitzenkandidatin der Grünen "an meine Grenzen" stieß. Später fügt sie hinzu, sie rede hier in Aachen "über die mutigsten Frauen Europas".

Sie erzählt, wie die drei im Sommer 2020 in nur 15 Minuten übereingekommen seien, dass Tichanowskaja nun die Opposition anführen solle. Dann erweist die Ministerin Veronika Zepkalo ihre Referenz. "Du hast mal gesagt, dass Männer vermutlich wochen- oder monatelang über solch einen Schritt verhandelt hätten." Vielleicht sei der belarussische Widerstand ja "ein typisch weiblicher Protest" gewesen. Nein, Baerbock nimmt im Krönungsaal nicht die Vokabel "feministische Außenpolitik" in den Mund. Aber so meint sie es: "Ihr seid für Millionen Frauen ein Vorbild," lobt die Grüne, "ihr zeigt, was der Begriff Empowerment konkret bedeutet - wenn aus dem Enthusiasmus und dem Vorbild einiger weniger eine ganze Bewegung entsteht."

Außenministerin Baerbock will eine neue Ostpolitik der EU

In ihrem zweiten, für eine Außenministerin klassischen Redeteil räumt sie ein, Deutschland habe gegenüber dem belarussischen Regime zu lange "zu zögerlich" gehandelt: "Das war falsch." Europa müsse künftig früher agieren: "Nicht erst dann, wenn Tausende verhaftet werden. Nicht erst dann, wenn Bomben fliegen und die Panzer rollen."

Es ist kein fertiges Konzept, dass die Chefin des Auswärtigen Amtes an diesem Donnerstag präsentiert. Aber sie skizziert neue Linien. Als Lehren aus Belarus, als Folge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. "Es ist unser aller Verantwortung," ruft sie in Aachens Krönungsaal, "die deutsche und die europäische Politik gegenüber unserer östlichen Nachbarschaft neu aufzustellen - in einem neuen Sicherheitsumfeld." Das seien Berlin und Brüssel den östlichen Nachbarn schuldig. Ländern wie der Ukraine, der Republik Moldau, Georgien oder dem Westbalkan eine Perspektive in Richtung EU zu geben und zugleich das Verhältnis zu den Autokraten in Belarus und Russland zu klären, "das ist die entscheidende Frage unserer Zeit, wir dürfen uns nicht wegducken". Mit Blick auf den Kriegsherrn in Moskau wird Barbock dann noch deutlicher: "In unserem Verhältnis zu Putins Russland kann es auf absehbare Zeit nicht um Sicherheit mit Russland, sondern nur um Sicherheit vor Russland gehen."

Die drei Karlspreis-Trägerinnen antworten an diesem Donnerstag eher bescheiden. Aber auch sie sprechen Klartext. Die Auszeichnung gehöre nicht ihr, sagt Swetlana Tichanowskaja, und auch nicht ihren Freundinnen: Sie gehöre "allen Belarussen" und vor allem auch "jedem Kind, das darauf wartet, dass Mutter oder Vater aus dem Gefängnis entlassen werden".

Aachen, diese Bürgerstadt im äußersten deutschen Westen, ist vielleicht der richtige Ort, um dann noch eines klarzustellen. "Ich höre oft, was in Belarus und in der Ukraine passiert, das sei ein Kampf zwischen Ost und West," mahnt die 39-Jährige mit ernster Miene, "aber das stimmt nicht: Es ist ein Kampf zwischen Demokratie und Tyrannei." Putin und Lukaschenko würden versuchen, den vereinten Westen zu spalten: "Aber Ihre Einheit ist wichtig für den Frieden in der Ukraine. Und Ihre Einheit ist wichtig für die Demokratie in Belarus." Baerbock nickt, am Ende erheben sich die Zuhörer zu langem Beifall. Die meisten sind Männer, aber das ist vielleicht egal an diesem Festtag.

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