Süddeutsche Zeitung

Antisemitismus:Die unentbehrlichen Sündenböcke

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Ein hundert Jahre altes, neu entdecktes Buch über das Schicksal der Juden in Wien lädt zum Gedankenspiel ein: Eine Stadt ohne Migranten - wie sähe die aus?

Kolumne von Karl-Markus Gauß

Vor knapp hundert Jahren erschien in Wien ein Roman, verfasst von einem Journalisten und Autor, der konsequent auf Kolportage, grelle Effekte, populäre Genres setzte, aber glaubwürdig das Ziel politischer Aufklärung verfolgte. Was kaum je zusammengeht, dass mit simplen, auf Sensation abgestellten Mitteln kritische Gedanken formuliert und geweckt werden, Hugo Bettauer ist es in seinen zwanzig Romanen und unzähligen Artikeln erstaunlich oft gelungen. 1872 geboren, war er lange rastlos unterwegs, als Reporter zog er von Wien nach Berlin, nach Zürich, in München arbeitete er am Kabarett "Die Elf Scharfrichter" mit, zweimal wanderte er in die USA aus, bis er nach dem Ersten Weltkrieg zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten Wiens wurde. Seine Feinde, die Deutschnationalen und katholischen Antisemiten, hassten ihn als gefährlichsten aller "Asphaltliteraten", seine Anhänger bewunderten den Mut, mit dem er publizistisch für soziale Gerechtigkeit, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die sexuelle Befreiung zu Felde zog.

1922 schrieb er binnen weniger Wochen den Roman "Die Stadt ohne Juden". Das hunderttausendfach verkaufte Buch denkt den alltäglichen Antisemitismus in einem grimmigen Gedankenspiel konsequent weiter und lässt ihn dann eine verblüffende Wende nehmen. Der Krieg hat das Land zerstört, die Rezession die Menschen in die Armut getrieben, die Wiener hungern und sehnen sich nach dem Erlöser, der ihnen den Weg in die bessere Zukunft weist. Ein schlaudummer Bundeskanzler formt aus der Meinung vieler, dass die Juden an allem schuld wären, sein erfolgreiches Programm: Sie müssen weg! Und so haben die Juden tatsächlich ihre Koffer zu packen, ihre Wohnungen zu räumen und Wien zu verlassen. Aber was passiert, kaum dass der Sündenbock außer Landes gejagt ist? Die Krise verschärft sich, das Land wird zahlungsunfähig, und in der größten Not fassen die Wiener einen klugen Entschluss: Inständig bitten sie die in alle Welt verstreuten Juden, in die alte Heimat zurückzukehren, denn ohne Juden geht ihre Stadt vor die Hunde.

Bettauers ironische Wendung: Inständig hoffen die Wiener auf eine Rückkehr der Juden

Mit sarkastischem Witz hat Bettauer in seinem "Roman für übermorgen", wie der Untertitel lautet, die völkischen Phrasen gleichsam beim Wort genommen: Politische Marktschreier betreiben ihr Geschäft mit ruchlosen Reden - was aber geschieht, wenn sie in die Lage versetzt werden, diese in die Tat umzusetzen? Die Lektüre des Romans ist beklemmend, weil wir heute wissen, dass keine zwei Jahrzehnte vergingen, bis die Juden aus Wien ums Leben flüchten mussten oder, wenn ihnen das nicht gelang, in die Vernichtungslager deportiert wurden. Doch Bettauer hat wohl nicht den Holocaust vorausgesehen, sondern eher die Mechanik der Verhetzung bloßlegen und die demagogische Rhetorik entlarven wollen.

Das Buch wurde 1924 verfilmt; erst vor wenigen Jahren tauchte eine Kopie des verschollenen Originals auf einem Pariser Flohmarkt auf, die vom Filmarchiv Austria erworben und auf sensationelle Weise restauriert wurde. Trotz ihrer künstlerischen Schwächen sind Buch wie Film von bestürzender Aktualität. Das hängt mit dem radikalen Witz zusammen, der den Antisemitismus gewissermaßen gegen diesen selber wendet. Indem Bettauer seine Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von empörten Massen und Strategen der politischen Macht richtet, führt seine Kritik über den konkreten Anlass hinaus.

Keine Sorge, ich habe nicht vor, das Schicksal der Juden von damals mit dem der Flüchtlinge und Migranten von heute zu überschneiden. Aber Film und Buch legen es nahe, sich probeweise zum Beispiel eine "Stadt ohne Migranten" zu imaginieren, ein Wien etwa, in dem keine Menschen leben, die vor zwanzig Jahren vor dem jugoslawischen Zerfallskrieg nach Österreich flohen.

Wer die Fähigkeit, sich an die Phrasen von gestern zu erinnern, noch nicht völlig eingebüßt hat, der weiß, dass die Bosnier, Serben, Kroaten damals von den hiesigen politischen Kriegsgewinnlern mit genau jener Rhetorik der Verachtung und Verdächtigung empfangen wurden wie zwanzig Jahre später die Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak. Kulturelle Eigenheiten, die heute als spezifisch muslimisch gelten, wurden damals den geflüchteten Europäern aus dem Nachbarland zugeschrieben.

Und heute? Wien als Stadt ohne die untereinander teils immer noch verfeindeten Bosnier und Serben? Da würde die urbane Infrastruktur zusammenbrechen. Keine Kellner in den Wirtshäusern, keine Zimmermädchen in den Hotels, keine Pächter, die ihre Tankstellen auch in der Nacht geöffnet halten, keine Fußballnationalmannschaft, die gelegentlich sogar Spiele gewinnt. Von den Geschäftsleuten, die Steuern zahlen, den vielen, die in sozialen oder künstlerischen Berufen tätig sind, gar nicht zu reden. Nein, ohne die einstigen Flüchtlinge vom Balkan ginge heute in Wien gar nichts mehr. Ob man in zwanzig Jahren Gleiches von den heutigen Flüchtlingen sagen wird, hängt von diesen selbst und ihrem Willen ab, sich in einer säkularen Gesellschaft zu bewähren; und von uns und unserer Bereitschaft, ihnen die Integration, die wir notorisch von ihnen verlangen, nicht vorsätzlich zu erschweren.

Wie es mit Buch und Film weiterging? Nun, der Regisseur des von den Antisemiten wild bekämpften Films, Karl Breslauer, trat 1940 der NSDAP bei; seine jüdische Drehbuchautorin Ida Jenbach wurde 1942 in einem KZ in Weißrussland ermordet. Da war Bettauer bereits 17 Jahre tot; im März 1925 hat ihn ein junger Nationalsozialist erschossen.

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Quelle:
SZ vom 26.07.2019
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