Karibik:See der Räuber

Die Not in Venezuela treibt wieder Piraten aufs Meer.

Von Boris Herrmann

Im sogenannten Goldenen Zeitalter der Piraterie musste man sich in der Karibik vor Männern wie William Kidd, Edward England, Long John Silver, Blackbeard oder Jack Sparrow hüten. Ob diese Gestalten nun echt oder fiktiv waren, in der Vorstellung tragen sie Dreispitzhüte, Augenklappen, segeln unter Totenkopfflaggen und humpeln auf Holzbeinen. In unzähligen Romanen und Filmen ist die Figur des trinkfesten Seeräubers romantisiert worden. Zur Verklärung trug auch bei, dass es Piraten in der Regel auf den Reichtum noch größerer Räuber abgesehen hatten: Im 17. und 18. Jahrhunderts machten sie vor allem auf jene Schiffe Jagd, die das Diebesgut aus der Neuen Welt ins alte Europa bringen sollten.

Der moderne karibische Pirat unterscheidet sich von der klassischen Variante nicht zuletzt durch sein Beuteschema. Es ist jedenfalls nicht überliefert, dass William Kidd oder Jack Sparrow wegen einer Ladung Baby-Windeln zum Angriff geblasen hätten.

Im Golf von Paria zwischen der Ostküste Venezuelas und dem Inselstaat Trinidad und Tobago herrscht gerade Piratenalarm. Die beiden Länder sind verbunden durch eine der gefährlichsten Schmuggelrouten der Gegenwart. Hier wird mit nahezu allem gedealt: Zigaretten, Alkohol, Grundnahrungsmitteln, Benzin, Drogen, Waffen, Tieren, Frauen. Lokalen Medienberichten zufolge gehören auch Windeln dazu. Pampers aus Trinidad werden auf dem venezolanischen Schwarzmarkt wie Goldbarren gehandelt.

Im Krisenstaat des Autokraten Nicolás Maduro sind nicht nur Essen und Medikamente, sondern auch Hygieneartikel knapp. Viele ehemalige Fischer, vor allem aus der Küstenort Güiria, haben sich deshalb auf den Handel mit Mangelwaren verlegt, die sie aus Trinidads Hauptstadt Port of Spain herüberschiffen. Güiria gilt aber auch als eine Hochburg venezolanischer Piraten. Laut Augenzeugenberichten sehen sie nicht romantisch aus, sie tragen Sturmmasken und automatische Waffen. Wenn sie das Boot brauchen, gibt es Tote. Dutzende Menschen sollen auf dieser Route in den vergangenen Monaten erschossen oder über Bord geworfen worden sein.

Im vergangenen Jahrzehnt machten Berichte von Piraterie vor der Küste Somalias Schlagzeilen. Inzwischen scheint sich die Karibik wieder zum Zentrum der Seeräuberei zu entwickeln. Eine Studie listet 71 Piratenangriffe in der Region aus dem Jahr 2017 auf - ein Anstieg von 163 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dabei geht es aber vor allem um Attacken auf Frachtschiffe, Luxusyachten und Segelboote.

Die Gewässer vor dem ausgehungerten Venezuela gelten als besonders piratenanfällig, auch weil sich Teile der Küstenwache und der Nationalgarde dort offenbar als moderne Freibeuter betätigen. Aber auch auf den nahe gelegenen Urlaubsinseln wie St. Vincent und den Grenadinen oder St. Lucia treiben die Banditen ihr Unwesen. In der Wallilabou Bay von St. Vincent wurde vor zwei Jahren ein Segler aus dem bayerischen Sennfeld von Seeräubern ermordet. Selten kamen sich der alte und der neue Fluch der Karibik so nahe. Der Tatort gehörte zu den Drehorten des gleichnamigen Hollywoodfilms - mit Johnny Depp als Piratenheld Jack Sparrow.

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