Dieser Moment ist voller Emotionen. Es ist der Augenblick, in dem ein Politiker oder eine Politikerin unter dem Jubel der eigenen Anhänger über die Ziellinie geht - wenn auch im Sitzen. Große Gefühle machen sich Luft. Das wird diesmal nicht anders sein.
Wenn Olaf Scholz am Mittwoch zum Bundeskanzler gewählt werden sollte, wird sich schon während des frenetischen Applauses der eigenen Leute und bevor Bundestagspräsidentin Bärbel Bas alle Formalitäten erledigt hat, eine Schlange an Gratulanten bilden: Fraktionsvorsitzende der Regierungs- und der Oppositionsparteien sowie weitere Abgeordnete werden sich anstellen, um den neuen Regierungschef zu beglückwünschen. Auch ein paar Blumensträuße wird Scholz wohl zu verstauen haben.
Nur eine Frau wird fehlen: Angela Merkel. Ein Foto vom Handschlag zwischen Vorgängerin und Nachfolger im Plenum des Bundestages wird es nicht geben - nicht etwa, weil Merkel sich weigert. Vielmehr gilt für die scheidende Kanzlerin am Mittwoch: Sie muss leider draußen bleiben. Das gab es noch nie. Angela Merkel, die als Erste aus dem Amt geht, ohne eine Wahl verloren zu haben, wird auch die Erste sein, die sich bei der Wahl des Nachfolgers nicht mehr im Plenum aufhalten darf. Denn Zutritt haben nur gewählte Abgeordnete, so will es die Hausregel. Und Merkel ist keine Abgeordnete mehr.
Ihre Vorgänger waren es noch - weshalb bei den letzten Regierungswechseln historische Bilder entstehen konnten. Am 1. Oktober 1982 gewann Helmut Kohl mithilfe der FDP das konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt. Die Liberalen waren der SPD nach 13 Jahren Koalition untreu geworden und hatten, angeführt von Hans-Dietrich Genscher, die Seiten gewechselt. Nicht alle FDP-Abgeordneten unterstützten diesen Schritt, weshalb Schmidt bis zuletzt gehofft haben mag, dass Union und FDP nicht die notwendige Mehrheit erhalten könnten. Schon einmal war ja ein CDU-Kandidat in einem konstruktiven Misstrauensvotum gescheitert: 1972 versuchte Rainer Barzel vergeblich, Willy Brandt zu stürzen.
Schröder und Kohl logierten sogar unter einem Dach
Als Bundestagspräsident Richard Stücklen 1982 im Bonner Bundestag das Ergebnis verkündet hatte, saß Schmidt einige Sekunden lang mit schweren Augenlidern in der zweiten Reihe der SPD-Fraktion, vor ihm mit versteinerten Mienen SPD-Chef Willy Brandt und der Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner. Dann machte sich der abgewählte Kanzler auf zur anderen Seite des Plenums und reichte Kohl die Hand, der sich mit einem kurzen Kopfnicken bedankte. Niemand hätte es damals für möglich gehalten, dass Kohl länger regieren würde als Konrad Adenauer - und erst nach 16 Jahren selbst einem Nachfolger gratulieren müsste.
Das war am 27. Oktober 1998, als Gerhard Schröder zum neuen Kanzler der ersten rot-grünen Regierung gewählt worden war. Erster Gratulant war der damalige SPD-Chef Oskar Lafontaine, dann kamen die Fraktionschefs der künftigen Koalitionspartner, Kerstin Müller und Rezzo Schlauch, sowie ein gertenschlanker Joschka Fischer. Als Bundestagspräsident Wolfgang Thierse Schröder zum Wahlsieger erklärt hatte, erhob sich auch Helmut Kohl und gratulierte Schröder mit Handschlag und ein paar freundlichen Worten. Kohl blieb dann sogar noch einige Zeit Mitglied des Bundestages, ehe er sein Mandat abgab. Und Schröder überließ Kohl sogar eine Zeitlang die Wohnung im Bonner Kanzlerbungalow, sodass Alt- und Neukanzler unter einem Dach logierten.
Als Gerhard Schröder am 22. November 2005 aufbrach, um die etwa zehn Schritte zu Angela Merkel hinüberzugehen, war dies ein Moment von besonderer Pikanterie. Noch am Wahlabend hatte Schröder in der legendären Fernseh-Elefantenrunde erklärt, seine SPD werde doch angesichts des knappen Wahlergebnisses nicht Angela Merkel zur Bundeskanzlerin wählen - man möge mal "die Kirche im Dorf lassen", so Schröder. Tatsächlich waren Merkel und die Union weit unter den Umfrageergebnissen geblieben, während Schröder und die SPD auf den letzten Metern mächtig aufgeholt hatten. Trotzdem lag die Union am Ende noch knapp vor der SPD - und nach zweimonatigen Verhandlungen kam es dann doch anders als von Schröder vorhergesagt: Die Abgeordneten der SPD wählten im Bundestag gemeinsam mit der Union Angela Merkel zur Kanzlerin, unter ihnen auch ein gewisser Olaf Scholz, wie er 16 Jahre später in der letzten Kabinettssitzung Merkels berichtete.
Nun wird er selbst Kanzler. Und Angela Merkel wird die Wahl im Bundestag von der Besuchertribüne aus verfolgen. Ins Plenum selbst aber darf sie nicht. Selbst die Regierungsbank, auf der sie als geschäftsführende Kanzlerin in den ersten Sitzungen des neu gewählten Parlaments noch Platz nehmen durfte, muss an diesem Tag frei bleiben, bis der gewählte und ernannte Kanzler dort Platz nimmt. So wird Merkel Scholz nicht im Reichstagsgebäude ihre Glückwünsche aussprechen, und sie wird auch nicht im Schloss Bellevue der Ernennung ihres Nachfolgers durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beiwohnen. Aber spätestens bei der Übergabe der Amtsgeschäfte am Nachmittag sollte es Gelegenheit zur Gratulation geben.