Kanzlerkandidat Steinbrück:Kandidat der Verunsicherten

Eine stürmische Massenbewegung war es nicht, die Peer Steinbrück nach ganz oben getragen hat. Trotzdem könnte er ein guter Kandidat sein: Sein Rambo-Habitus kommt gut an bei Männern mit geringer Bildung in schlecht bezahlten Jobs. Und: Er ist sozialdemokratischer, als viele denken.

Franz Walter

Mehr als zwei Jahre hatte Sigmar Gabriel die Organisationsreform seiner maladen Partei zur Chefsache gemacht. Immer wieder tagten Kommissionen, Think-Tanks, Beratergruppen. Der Parteivorstand lud zu Konferenzen und Symposien ein. Alles stand unter der Überschrift: Mehr Beteiligung, Demokratie wagen, Urwahl der Kandidaten. Man schielte auf das Referendum der französischen Genossen, die ihren Präsidentschaftskandidaten sogar in Plebisziten von Mitgliedern und Sympathisanten fanden.

Spätestens am 28. September 2012 ist das alles einkassiert worden. An der ganzen Kandidatenkür waren wie eh und je nur kleinste Cliquen beteiligt, zum Schluss bedrängt durch den Druck der Medien, letztlich nicht mehr Herr des Verfahrens, fast Getriebene. Ein Glanzstück parteiendemokratischer Vitalität und Souveränität hat die SPD auch diesmal nicht geboten.

Es hat jedenfalls keine stürmische innerparteiliche Massenbewegung Peer Steinbrück nach ganz oben getragen. Aber aus der historischen Reihe fällt seine Nominierung auch nicht heraus. Der große Willy Brandt war 1960 auch kein Mann des sozialdemokratischen Juste Milieus, als eine kleine Clique um Herbert Wehner ihn für die Bundestagswahlen 1961 nach vorne stellte. Er galt vielmehr als weit rechts stehend und als Liebhaber bürgerlicher Amüsements.

Steinbrücks Nominierung bedeutet mehr Kontinuität als Bruch

Der Abstand von Helmut Schmidt und Gerhard Schröder zum Mainstream ihrer Partei dürfte noch weithin in Erinnerung sein. Aber eben das gab den Ausschlag für ihre Wahl, für ihre Kanzlerkandidaturen: Sie sollten Bevölkerungskreise erreichen, die sonst mit dem gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Funktionärsmilieu eher nicht in Berührung kommen mochten. Insofern bedeutet Steinbrücks Nominierung mehr Kontinuität als Bruch.

Und auch in eine andere Tradition, zumindest von Brandt und Schmidt, könnte sich Steinbrück einzufügen versuchen. Alle Welt fragt sich derzeit, ob er tatsächlich die Popularitätsdifferenz zur Kanzlerin in den nächsten Monaten verringern kann. Indes: Die Kluft zwischen Brandt und Kiesinger war 1969 weit größer - zuungunsten von Brandt. Und doch wurde er Kanzler. Helmut Schmidt kam 1976 und 1980 mit den Sozialdemokraten nur auf den zweiten Platz, hinter der Union von Helmut Kohl und Franz Josef Strauß. Aber auch Schmidt wurde Kanzler.

In der bundesdeutschen Politik entscheidet oft die Kunst der Koalitionsschmiederei, die Fähigkeit und Elastizität zur Allianz. Das wird zur eigentlichen Bewährungsprobe bereits in den nächsten Monaten für Steinbrück. Man kann die potenziellen Partner kühl ignorieren, wie Kiesinger das tat, man kann mit ihnen aber auch Wein trinken und ihnen durch allerlei Freundlichkeiten schmeicheln wie Brandt und Wehner.

Was sind noch die Traditionskerne der SPD?

Natürlich braucht Steinbrück, um den nötigen Spielraum für dergleichen Avancen abzusichern, Steinmeier und Gabriel. Überall ist zu lesen, dass mit der Entscheidung vom vergangenen Freitag "endlich" die Troika passé ist.

Aber das Gegenteil ist richtig. Nun erst beginnt die reale politische Phase der Troika, vorher war sie nicht mehr als eine Chimäre der Medien. Jetzt aber sind die Funktionen verbindlich zugeteilt. Ohne die Loyalität und politische Klugheit des Fraktionsvorsitzenden und des Parteichefs hat der Kandidat keine Chance, zusätzliche Stimmen und Optionen über den zusammengeschrumpften Traditionskern hinaus zu gewinnen.

Nur, was sind noch die Traditionskerne? Wo kann, ja muss die SPD zusätzliche Punkte machen, um gegenüber 2009 zuzulegen? In aller Regel lautet die Antwort auf die zweite Frage: in der Mitte, bei dem bürgerlichen Grenzwähler. Und daher sei ein Wirtschaftsfachmann und Helmut-Schmidt-Zögling der rechte Mann. Doch: Die Mitte heute ist nicht mehr die Mitte wie zu den Zeiten von Schmidt.

Frauen goutieren Steinbrück weniger als Männer

Die gesellschaftliche Mitte des Jahres 2012 ist keineswegs mehr rundum sozialzufrieden. Sie ist nicht mehr Apologetin der herrschenden Verhältnisse, keine Prätorianergarde der Märkte und kapitalistischen Profite. In der Mitte findet man inzwischen mehr Biss gegen Banker, größere Wut über Privatisierungen in der Wirtschaft und Marktprinzipien im Bildungssystem als bei den Mitgliedern des Parteivorstandes der SPD.

Dazu: Die SPD hat ja 2009 nicht nur in der Mitte verloren. Und, anders als zu den Zeiten eines Kanzlers Schmidt, sind die Abtrünnigen keineswegs en masse zur CDU geströmt. Die volatile Mitte siedelt heute eher bei potenziellen Bündnispartnern der SPD: bei Grünen oder Piraten.

Der größte Exodus aus dem sozialdemokratischen Lager vollzog sich jedoch seit 2002 im unteren Drittel der Gesellschaft. Merkwürdigerweise gerät das in den Medien, aber auch in den oft bizarren Politikberatungsunternehmen weitgehend aus dem Blick. Steinbrück muss im Übrigen für diese Schichten kein schlechter Kandidat sein.

Im soziologischen Duktus formuliert: Er kommt nachweislich gut an bei Männern mit formal geringer Bildung in schlecht bezahlten Jobs. Sein Rambo-Habitus nutzt ihm dort. Aber auch große Teile der Wirtschaftsbürger schätzen ihn deswegen; der Macho-Auftritt bildete eine eigentümliche Klammer zwischen den Führungsmännern in Unternehmen oben und dem maskulinen Antifeminismus unten. Allerdings: Frauen goutieren das - und daher Steinbrück - weit weniger.

Die eigene Steuerpolitik für verfehlt erklärt

Peer Steinbrück

Peer Steinbrücks Rambo-Habitus kommt bei den Wählern an - zumindest bei manchen.

(Foto: AFP)

Fraglich ist, ob er als Gegenkanzler zu Merkel in der EU-Frage Pluspunkte sammeln kann. Angela Merkel steht als mächtige Frau auf den wirklich großen Bühnen, während Steinbrück nur in sozialdemokratischen Bierzelten zwischen Recklinghausen und Offenbach oppositionell herumnölen kann. Dabei aber bleiben etliche gesellschaftliche Probleme politisch unbearbeitet liegen, weil der EU-Kanzlerin dafür Zeit, Kraft und Aufmerksamkeit fehlen.

Es sind gerade die Alltagsthemen von Mitte und unten, die Merkel vernachlässigt: Probleme des Alters, der Pflege, der Gesundheitsversorgung, angemessene Löhne, gerechte Einkommensverteilung. Sicher auch die Konfusionen um die Energiewende. Natürlich der Wunsch nach biografisch kalkulierbaren und verlässlichen Chancen für den Nachwuchs. Und immer noch: die Sorge um Schule, Bildung, ein ausbalanciertes Leistungsverständnis, welches Muße und Solidarität mit einbezieht.

Man hat oft übersehen, dass Steinbrück einiges davon zuletzt in seinen größeren publizistischen Beiträgen aufgenommen hat, dass er inzwischen die (eigene) Steuerpolitik der Schröder-Jahre für verfehlt erklärt, den Niedriglohnsektor als bedenklich geißelt und andere gesellschaftliche "Gleichgewichtsstörungen" beklagt. Zwingend ist es daher nicht, dass Steinbrück und seine Partei miteinander fremdelnd in den Wahlkampf ziehen.

Franz Walter, 56, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Als Parteienforscher hat er sich besonders mit der SPD beschäftigt.

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