Süddeutsche Zeitung

Kanzlerin Merkel in London:Europa bewegt sich behutsam

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Merkels Botschaften im Londoner Parlament sind klar: Europa wird sich nur Schritt für Schritt weiterentwickeln, und ohne die Briten geht es nicht. Wie sie die EU reformieren will, behält sie für sich. Eine harte Debatte bleibt ihr als Kanzlerin erspart, Antworten wird sie dennoch geben müssen.

Ein Kommentar von Stefan Kornelius

Zwei Botschaften hat die deutsche Bundeskanzlerin für die britische Politik parat, beide bemerkenswerterweise verpackt in Zitate einer fast 30 Jahre alten Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vor dem Parlament in London: Großbritannien gehört zu Europa, weil es dieses demokratische Europa ohne die Briten gar nicht gäbe. Und Europa wird sich nur Schritt für Schritt entwickeln, nicht in gewaltigen Sprüngen.

Beide Botschaften finden auch heute ihre Adressaten. Wer Großbritanniens Platz in der EU anzweifelt - ob im Lande selbst oder außerhalb -, der versteht die Geschichte nicht. Das Historien-Argument ist im britischen Parlament nicht zu schlagen. Die Geschichte hat den Briten einen bedeutenden Platz im europäischen Machtmobile zugewiesen. Abhauen geht also nicht. Aber: Wer, wie der britische Premier David Cameron, von der EU eine herkulische Reformanstrengung erhofft, inklusive umfassender Vertragsreform, der versteht die EU nicht. Europa bewegt sich behutsam, Schritt für Schritt, passenderweise wie die deutsche Kanzlerin, mit oder ohne Krücken.

Geschichte und Europas Rhythmus: Zwischen diese beiden Buchstützen lässt sich eine ganze Bibliothek mit Europa-Kritik und Europa-Visionen packen. Merkel war gut beraten, die unendliche Klage-Litanei der Briten mit Europa gar nicht erst aufzuschlagen. Sie kann nur mäßigend wirken, ohne in die Abgründe der britischen Innenpolitik hinabgezogen zu werden. Wenn die Abgeordneten und Peers das Zuhören nicht verlernt haben, dann galt ihnen eine einfache Mahnung: Treibt es nicht zu weit, seid euch eurer Verantwortung bewusst.

Radikalität ist Merkel ein Gräuel

Die Verhältnisse zwischen Briten und Deutschen sind denkbar simpel: Premier Cameron wird von einer wilden Meute zur radikalen Europa-Reform getrieben. Und Kanzlerin Merkel ist jede Radikalität ein Gräuel. Dass sie Cameron dennoch mag, hat mit dessen Qualitäten als politischer Rampensau zu tun und mit seinem klaren Blick auf die Verhältnisse einer globalisierten Wirtschaft, den Merkel teilt.

Freilich wird ihre Liebe nicht so weit gehen, dass sie Cameron aus seinem innenpolitischen Dilemma befreit oder gar zuließe, dass die Briten Europa beschädigten. Hier müsste nun der zweite Teil der Merkel-Rede beginnen, den sie verständlicherweise nicht in London vortragen konnte. Was genau will die Kanzlerin also noch erreichen in ihrer dritten Amtszeit? Was sind die konkreten Pläne für die Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion? Sollen Regierungen eine gemeinsame Wirtschaftspolitik verabreden oder wandert diese Kompetenz an die Kommission? Überhaupt Kommission: Was genau von Camerons Brüssel-Klage ist berechtigt? Wo müssen Zuständigkeiten überprüft und zurückgeschraubt werden?

Fragen über Fragen, die eine Premierministerin Merkel dem Unterhaus in der Fragestunde hätte beantworten müssen. Weil sie aber Kanzlerin ist, blieb ihr die Härte der britischen Debatte erspart. Die Antworten wird sie dennoch geben müssen.

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Quelle:
SZ vom 28.02.2014
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