Merkel in KZ-Gedenkstätte Dachau:Die Kanzlerin und der Coup des Alten

Sichtlich angespannt besucht Angela Merkel die Gedenkstätte Dachau und hält eine würdige Rede - von Wahlkampf keine Spur. Gut gelaunt ist vor allem der greise Max Mannheimer. Der Auschwitz-Überlebende hat nicht nur die Kanzlerin in das ehemalige Konzentrationslager gelotst. Mannheimer schafft es auch, Merkel mit Humor und Schlagfertigkeit zu verblüffen.

Von Oliver Das Gupta, Dachau

Vladimir Feierabend KZ Überlebender Dachau

"Ihr Deutschen liebt diese Frau, nicht wahr?": KZ-Überlebender Vladimir Feierabend

(Foto: Oliver Das Gupta)

Vladimir Feierabend steht auf dem gekiesten Platz, auf dem er einst vor der SS antreten musste. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. "Ja, die Zigaretten", sagt der Tscheche. "Dieses Laster habe ich seit meiner Zeit hier in Dachau." Zusammen mit Familienangehörigen hatten ihn die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges von Prag ins KZ Dachau verschleppt (hier sein Zeitzeugen-Protokoll).

In dem Lager hatte er gelitten, durch die SS-Wärter, durch die Zwangsarbeit und all die Krankheiten, die im Lager grassierten. Und er hat sich angewöhnt zu rauchen. Nach dem Krieg wurde er Arzt für Epidemiologie und Hygiene, weil er die Seuchen, die er aus dem KZ kannte, bekämpfen wollte. Nun ist Feierabend zurückgekommen an den Ort, wo er die schlimmste Zeit seines Lebens verbrachte. Er will Angela Merkel sehen.

Im Vorfeld gab es Kritik an der Visite der Kanzlerin so kurz vor der Bundestagswahl. Ein Besuch in einem früheren KZ unmittelbar vor einem CSU-Auftritt im Bierzelt, das sei "geschmacklos", schimpfte etwa Grünen-Fraktionschefin Renate Künast. Die Sache habe wohl auch "ein bissle was" mit dem anstehenden Urnengang zu tun, formuliert auch der KZ-Überlebende Feierabend in einem altertümlichen Deutsch mit österreichischer Färbung. "Aber trotzdem ist es schön, dass Merkel kommt."

Die Bundeskanzlerin sieht die ganze Szenerie zuerst von oben. Merkels Hubschrauber rattert in einem Bogen über den Appellplatz, wenig später fährt ihre schwarze Limousine vor. Eine Traube aus Zeitzeugen und Honoratioren drängt sich um die Regierungschefin. Neben ihr sitzt ein alter Mann im Rollstuhl, sein schlohweißes Haar weht im Wind: Max Mannheimer, Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau und verantwortlich dafür, dass die Kanzlerin die Gedenkstätte besucht.

Der Greis, der einen großen Teil seiner jüdischen Familie durch die Shoah verlor, hatte von Merkels Wahlkampfauftritt beim Dachauer Volksfest gehört - und die Kanzlerin eingeladen. Ein geistig hellwacher 93-Jähriger (und SPD-Mitglied) hatte ein Ereignis ersonnen, das international Beobachtung findet. Es ist sein Coup. Mannheimer genießt ihn sichtlich.

Etliche Fernsehteams drängeln sich auf dem Appellplatz, Journalisten und Sicherheitsleute recken ihre Hälse, Kameraverschlüsse klicken. Zwei Nonnen schauen mit breitem Lachen auf die Kanzlerin, eine von ihnen hält eine Digitalkamera nach oben und drückt ab, Schnappschuss muss sein.

Warme, einfache Sätze

Die obligatorischen Grußworte der bayerischen Staatsregierung und der Gedenkstätten-Leitung verfolgt Merkel stoisch. Sie sieht müde aus, ihre hochgezogenen Schultern verraten Anspannung. Dann geht sie ans Rednerpult, sie spricht mit belegter Stimme direkt Mannheimer, Feierabend und die Handvoll Überlebenden an, die vor ihr sitzen. Merkel formuliert warme, einfache Sätze. Sie spricht von dem Leiden und der Last der Erinnerung. Davon, dass "ein so tiefer Schmerz ein Leben lang nachhallt".

Die ersten Minuten von Merkels Ansprache sind die stärksten. Sie trifft die richtigen Töne. Den emotionalen Sätzen folgt die Information: Merkel referiert die Geschichte des Lagers, spricht über seine Entstehung, über Opfergruppen, über die mehr als 40.000 Toten, die der Wahnsinn der Nazis allein im KZ Dachau und seinen Außenlagern forderte. Nie wieder dürfe so etwas passieren in Deutschland, sagt Merkel. "Das ist die bleibende Verantwortung, die uns Deutschen erwächst." Es sind würdige Worte, die die Kanzlerin ausspricht.

Mannheimer erhebt sich nach Merkels Rede und will auch noch ein paar Sätze sagen. Er übergibt seine beiden Bücher und witzelt dabei. Das erste Werk sei nicht so gut und in Eile geschrieben, weil er damals dachte, er hätte Krebs - doch der Arzt irrte. "Man darf hier keine Werbung machen", sagt Mannheimer, "aber die Kameras sind so neugierig." Er hält die Bücher vor die Fotografen. Die Kanzlerin steht daneben und schaut verdutzt, dass der alte Mann mit ihr Reklame macht und seinen "Longseller" anpreist. So viel Humor und Schlagfertigkeit hat sie von ihm offenbar nicht erwartet. Noch ein kleiner Coup.

"Danke, danke, danke"

Für Mannheimer und seine Mitstreiter ist dieser Tag ein später Erfolg. Lange mied die Politik das Areal im nordwestlichen Umland Münchens. Lange wollten Dachauer Lokalpolitiker die Reste des Lagers verschwinden lassen. Dem couragierten Einsatz von Bürgern ist zu verdanken, dass die Gedenkstätte überhaupt errichtet werden konnte.

Bayerische CSU-Ministerpräsidenten mieden diesen Ort dennoch jahrzehntelang, obwohl er nur eine kurze Autofahrt von der Landeshauptstadt entfernt liegt. Horst Köhler kam als erster Bundespräsident 2010 nach Dachau. Hölzern, aber herzlich sprach er damals vor Überlebenden, die sich in größerer Zahl noch einmal zum Ort ihres Leidens aufgemacht hatten.

Angela Merkel Max Mannheimer in KZ-Gedenkstätte Dachau

KZ-Überlebender Max Mannheimer mit der Kanzlerin.

(Foto: dpa)

In der Geschichte der Diktatur ist Dachau ein schrecklicher Markstein: Das Konzentrationslager avancierte zum Prototypen der Lager, mit denen die Nazionalsozialisten Europa nach und nach systematisch überziehen sollten. Schon wenige Wochen nach der Machtergreifung Adolf Hitlers, im März 1933, pferchte das Regime hier politische Gegner in Dachau zusammen.

Später kamen Juden, aufmüpfige Geistliche, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere nach Dachau. Um das Hauptlager entstanden 140 Außenlager - gut sichtbar für die deutsche Zivilbevölkerung, die sich nach dem Krieg gerne damit herausredete, von der grausamen Behandlung von KZ-Häftlingen und anderen NS-Opfern nichts gewusst zu haben. In den zwölf Jahren der Terrorherrschaft litten allein in Dachau und seinen Außenkommandos mindestens 200.000 Menschen. Mehr als 40.000 Häftlinge überlebten die Torturen nicht.

Ärzte führten tödliche Menschenversuche durch, unzählige Häftlinge erlagen Seuchen oder wurden von der SS ermordet. Viele nahmen sich aus Verzweiflung das Leben, starben an Zwangsarbeit oder auf den Todesmärschen. Als am 29. April 1945 Dachau als eines der letzten Konzentrationslager von US-Soldaten befreit wurde, vegetierten mehr als 30.000 Häftlinge aus 31 Nationen in den völlig überfüllten Baracken.

Dachau diente als Schule für Massenmörder. Hier lernten sie, Humanität und Skrupel vollends abzulegen, um später in Lagern wie Auschwitz systematisch Menschen zu vernichten.

Max Mannheimer hat auch Auschwitz überlebt, diesen Ort, dessen Name Synonym für den Völkermord an den Juden Europas geworden ist. Seit 1988 ist er Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, er reist durch Schulen, hält Vorträge. Immer wieder erzählt er seine Geschichte.

Beim Besuch von Angela Merkel hält sich Mannheimer zurück. Die Aufmerksamkeit gehört der Kanzlerin. Sie lässt einen Kranz für die Opfer niederlegen, dann besichtigt sie das Museum, welches sich im ehemaligen Wirtschaftsgebäude des KZ befindet. Als Merkel anschließend noch einmal auf den Appellplatz tritt, erhält sie ein Buch, das so dick ist, wie ein Autoreifen. Es enthält Angaben zu allen Opfern des KZ Dachau. Mannheimer steht auf seinen wackligen Beinen und ergreift noch einmal das Wort. "Meine kürzeste Rede", kündigt er an und sagt: "Danke, danke, danke."

Merkel ist gerührt, sie weiß in manchen Momenten nicht, wohin mit den Händen. Sie schaut zu Regierungssprecher Steffen Seibert, der mit einer grünen Mappe im Journalistenpulk steht. Sie muss los, der Wahlkampf wartet. Merkel verabschiedet sich von den Zeitzeugen. Als sie dem Holocaust-Überlebenden Vladimir Feierabend die Hand gibt, ringt er mit der Fassung. Das Gesicht des Arztes spannt sich, er blinzelt, eine Sekunde verliert er das Gleichgewicht.

"Ein solcher Besuch bringt keine Wählerstimmen"

Minuten später ist die Kanzlerin weg, ebenso ihre Sicherheitsleute und die geschniegelten jungen Herren, die wohl zur CSU gehören. Zeitzeuge Feierabend steht ein paar Meter weiter auf dem Kies des Appellplatzes. Nach Rauchen ist ihm nicht zumute, Fröhlichkeit liegt auf seinem alten Gesicht. "Merkels Worte kamen von Herzen", sagt er. "Ihr Deutschen liebt diese Frau, nicht wahr?" Von Wahlkampf erwähnt Feierabend nichts mehr.

Mannheimer nimmt inzwischen wieder im Rollstuhl Platz, er gibt Interviews. Ob er, der Sozialdemokrat Mannheimer, Merkel mit seiner Einladung nicht im Wahlkampf geholfen habe, will ein Journalist wissen. "Nach meiner Ansicht bringt ein solcher Besuch keine Wählerstimmen", sagt der Alte. Er habe sie nicht eingeladen, weil sie "eine CDU-Frau" sei, sondern weil sie dieselben Ziele verfolge wie er.

Den Wahlkampfauftritt auf dem Dachauer Volksfest sieht er sich nicht an. Eine Stunde später erscheint der Jude Mannheimer in einem kaum besuchten italienischen Lokal - gemeinsam mit der Nonne, die zuvor begeistert Merkel-Fotos knipste.

Mannheimer ist zufrieden, sein Tagwerk weiß er erledigt. Jetzt hat er Hunger. Er bestellt Calamari und ein kleines Bier.

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