Kanzlerin in Ankara:Merkel und die Angst vor der Türkei

Zu arm, zu groß, zu muslimisch: Diese Ängste bedient Merkel zu Hause, wenn sie die Türkei als EU-Vollmitglied ablehnt.

Kai Strittmatter

Bundeskanzlerin Angela Merkel besucht am Montag die Türkei. Um türkische Gymnasien in Deutschland wird es nicht vorrangig gehen, sondern ein weiteres Mal um die Zukunft Europas: Ob die Türkei einen Platz darin hat oder nicht; ob die Europäische Union müde und verzagt durch die Welt stapfen möchte.

Zu arm, zu groß, zu muslimisch. Die Angst vor der Türkei speist sich aus diesen drei Punkten. Wenn Merkel die Türkei als EU-Vollmitglied ablehnt, wenn sie stattdessen auch in Ankara erneut für eine "privilegierte Partnerschaft" wirbt, dann bedient sie diese Ängste zu Hause. Es ist keine gute Zeit für die türkischen EU-Ambitionen.

Fast ist es, als suchten die Europäer zu verstecken, dass sie schon seit mehr als vier Jahren mit der Türkei über einen Beitritt verhandeln. Erweiterungsmüde ist die EU nun schon länger, das Griechenland-Debakel aber dürfte den Gegenwind für die Türken noch einmal anfachen: bloß keine weiteren Wackelkandidaten! Zeit, daran zu erinnern, wie viel es zu gewinnen gäbe.

Hohe Wachstumsraten

Zu arm? Ja, der Lebensstandard der Türkei liegt noch unter dem EU-Durchschnitt. Aber: Die Türkei holt rasant auf. Seit 2002 hat das Land mit durchschnittlich sieben Prozent weit höhere Wachstumsraten als jedes andere europäische Land. Deutsche Firmen haben das längst gemerkt: Mehr als 4000 von ihnen sind in der Türkei aktiv. Kein anderer Markt in Europa ist so vielversprechend.

Zu groß? Ja, die Türkei ist ein großes Land. Gekoppelt mit ihrer geografischen Lage macht sie genau das zu einem wichtigen Land. Es schickt sich an, Regionalmacht zu werden: naher Osten, Kaukasus, Schwarzmeerländer - zu allen Nachbarn möchte man gute Beziehungen, überall möchte man Einfluss ausüben.

Das ist neu. Das wirkt manchmal noch dilettantisch; aber hier ist gewaltiges Potential, das sich die EU zunutze machen könnte. Hinzu kommt die Rolle als Energiekorridor: Wer mehr Unabhängigkeit von russischen Gaslieferungen verlangt, für den ist die Türkei der Schlüssel.

Zu muslimisch? Das ist wohl der heikelste, nur selten offen ausgesprochene Punkt: Er ist Quelle für den antitürkischen Populismus, der die Wähler in Deutschland wohl noch viele Wahlkämpfe lang begleiten wird. Der Islam steckt dahinter, wenn es in Berlin heißt, die Kanzlerin wolle nicht, dass "der Charakter" der EU sich ändere.

Historisches Experiment

Dabei hat die EU in mancherlei Hinsicht nichts dringender nötig, als dass sich ihr Charakter ändere. Gerade hier liegt die größte Chance des Bandes zwischen der Türkei und Europa. Gerade die Tatsache, dass die Türken mehrheitlich gläubige Muslime sind, macht den Prozess der Demokratisierung hier so einmalig.

Europa wird gerade Zeuge eines historischen Experiments; und die Chancen stehen nicht schlecht, dass hier ein für allemal all jene eines Besseren belehren werden, die da behaupten, Islam und Demokratie, Islam und Rechtsstaat, Islam und Freiheit vertrügen einander so wenig wie Wasser und Öl. Die viel beschworene "soft power" der EU?

Hier zeigt sie sich exemplarisch. Die EU darf stolz darauf sein, wie sehr allein ihr Beispiel und ihr Drängen die Türkei schon verändert haben: Der EU-Prozess war lange die Klammer, die die verfeindeten Lager im Land, Türken und Kurden, Muslime und Laizisten zusammengehalten hat.

Und wichtiger noch: Die türkische EU-Mitgliedschaft entzöge den Argumenten der Kulturkämpfer und Terrorpropagandisten den Boden, die die Unversöhnlichkeit zwischen Islam und Christentum auf ewig festschreiben wollen.

"Weder Privilegien, noch Partnerschaft"

Es ist nicht so, dass die Kanzlerin all den Nutzen nicht sehen würde. Sie möchte es aber billig. Deshalb die Idee der "privilegierten Partnerschaft", die die Türken brüskiert. Sie ist keine Ein-, sie ist eine Ausladung: Die Türken sollen kooperieren bei Handel, Immigration und Energie - gleichzeitig aber weiterhin von allen Entscheidungsmechanismen ferngehalten werden.

Die Türkei ist aber schon jetzt in einer Zollunion mit der EU, sie ist Mitglied des Europarats und ihre Fußballer spielen in der Champions League. Merkels Idee brächte den Türken kaum Neues, "weder Privilegien, noch Partnerschaft", wie eine Zeitung titelte.

Die Türken halten Merkel zugute, dass sie die türkischen Ambitionen nie offen zu sabotieren suchte. Offiziell hält sich die Kanzlerin an das Prinzip "pacta sunt servanda", im Koalitionsvertrag mit der FDP steht, die 2005 begonnenen Verhandlungen der EU mit der Türkei würden "ergebnisoffen" weitergeführt. Und das wird noch dauern.

Türkeigegner suggerieren oft, ein Beitritt des Landes stünde morgen schon bevor. Das ist Unsinn; es kann noch ein Jahrzehnt dauern und mehr. Bis dahin aber werden die Türkei und die EU eine andere sein; und die Welt dazu. Nicht ausgeschlossen, dass die EU dann den Willen findet, die Geschicke des Jahrhunderts mitzugestalten.

Dass sie bei künftigen Klimagipfeln, Finanz- oder Energiekrisen den großen Blöcken China, Russland, USA eigenes Gewicht entgegensetzen möchte. Und dass sie dann dankbar ist, den Verbündeten Türkei in ihren Reihen zu haben. Bis dahin wäre mehr Ehrlichkeit wünschenswert in der Debatte über Arbeitsplätze, Immigration oder den Islam.

Die Ängste in Europa sind real. Aber die Türkei ist der falsche Sündenbock.

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