Angela Merkel und der Fußball, das ist die Geschichte einer bemerkenswerten Entwicklung. "Wenn sie einen Ball in den Händen hält, dann weiß sie nie, wohin - wohin mit diesem runden Ding, wohin mit sich selbst", schrieb 2006 der Stern über die damals noch neue Bundeskanzlerin. "Der Ball, die Frau, sie passen einfach nicht zusammen."
Politikern wird das häufig unterstellt: Ihr Interesse am Fußball sei strategischer Natur. Ihnen gehe es nur um gute Bilder und um die Hoffnung, ein bisschen Glanz möge auf ihr eigenes Image abfärben. Zur Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien haben ungefähr 20 Staats- und Regierungschefs ihren Besuch angekündigt. Schon das Eröffnungsspiel war prominent besetzt, etwa mit Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff und UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. Zum Endspiel am 13. Juli in Rio de Janeiro hat sich Russlands Präsident Wladimir Putin angekündigt. Der amerikanische Vizepräsident Joe Biden wird am morgigen Dienstag die Partie der US-Truppe gegen Ghana in Natal verfolgen.
Zuvor wird Angela Merkel zum ersten Mal auf der Ehrentribüne sitzen, in Salvador de Bahia, wo die deutsche Nationalelf zu ihrem ersten WM-Spiel gegen Portugal antritt. "Wir haben uns abgesprochen", verriet der für Sport zuständige Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Er werde das Achtelfinale besuchen, die Kanzlerin übernehme die Vorrunde.
Kanzlerin bei der WM:Merkels Beziehung zum Ball
Anfangs hat sie gefremdelt, inzwischen ist Merkel ein Fan der Fußball-Nationalmannschaft - und die Mannschaft ein Fan von ihr. Stationen einer bemerkenswerten Beziehung.
Dass Merkel gleich zu Beginn dabei ist, das ist nur konsequent. Seit 2006 ist ihre Beziehung zum Fußball, vor allem zur Nationalmannschaft, immer enger geworden. Damals überraschte sie mit der Aussage, sie habe schon 1974 im Leipziger Zentralstadion gesessen, als die DDR gegen England spielte. Die Europameisterschaft 1996 habe sie in Bonn in einer Kneipe verfolgt und 2002 den Ehemann im fernsehlosen Wochenendhaus zurückgelassen, um sich im Dorf durchzufragen, bei wem sie sich dazugesellen dürfe.
Als dann die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland eröffnet wurde und Merkel auf der Tribüne saß, zunächst in der Vorrunde gegen Costa Rica und Polen, da jubelte sie wie entfesselt. Nach dem gewonnen Spiel um Platz drei gegen Portugal sagte sie: "Unsere Jungs haben gewonnen." Unsere Jungs.
In einem SZ-Interview auf den Vorwurf angesprochen, ihre Leidenschaft sei nur vorgetäuscht, sagte Merkel: "Offenbar haben viele nicht damit gerechnet, dass ich mich für Fußball interessiere. Bis 2006 hat mich in meinem politischen Leben auch kaum einer danach gefragt. (...) Fußball zu sehen hat mir immer Spaß gemacht." Sie habe "seit vielen Jahren Europa- und Weltmeisterschaften im Fernsehen" verfolgt, "nicht nur unsere Mannschaft, sondern auch Begegungen mit Mannschaften von Italien oder Brasilien und vielen anderen."
Auch bei der Europameisterschaft 2008 nahm sie wieder auf der Tribüne Platz, diesmal beim Vorrundenspiel Österreich gegen Deutschland. Legendär sind die Fotos von Merkel im Zwiegespräch mit Bastian Schweinsteiger, der damals in der Partie gegen Kroatien eine Rote Karte kassiert hatte und später im Viertelfinale gegen Portugal auftrumpfen sollte.
"Sie", also Merkel, habe ihm gesagt, was er tun solle, berichtete Schweinsteiger verdutzten Journalisten. "Sie hat mir gesagt, dass ich nicht wieder so eine Dummheit tun soll. Und sie hat gesagt, ich soll wieder so spielen wie damals." Damals, damit war die WM 2006 gemeint. Schweinsteiger weiter: "Wenn die Bundeskanzlerin etwas sagt, dann muss man es tun."
In Südafrika 2010 führte Merkel einen ähnlichen Fachdialog mit dem verletzten Michael Ballack, als sie den Viertelfinal-Sieg der Deutschen gegen Argentinien verfolgte. Im Oktober marschierte sie nach dem EM-Qualifikationsspiel gegen die Türkei in die Kabine der DFB-Elf und ließ sich mit dem halbnackten Mesut Özil fotografieren. Das Bild ging durch die Medien, es wurde zum Politikum - und Merkels Nähe zum Fußball erlebte ihren Höhepunkt.
Den Kabinen-Besuch als ultimative Geste der Fußball-Leidenschaft hatte Helmut Kohl nach dem Gewinn der Europameisterschaft 1996 etabliert. Als Mehmet Scholl später gefragt wurde, wie es war mit dem Bundeskanzler in der Umkleide, antwortete der: "Eng."
Überhaupt ist das Risiko für Politiker, sich beim Fußball lächerlich zu machen, vergleichsweise hoch. Bundespräsident Theodor Heuss sagte 1953 zum Halbstürmer Max Morlock: "Und Sie sind sicher der Torwart?" 1966 hatte Präsident Lübke als einer der wenigen Deutschen den Ball beim Wembley-Tor der Engländer hinter der Linie gesehen. Legendär ist auch der Ausspruch des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber: "Die Brasilianer hatten ein fantastisches Trio da vorne mit Ronaldo, Ronaldinho und, äh, den anderen Brasilianern."
Merkel leistet sich solche Fehler nicht. Die Nationalmannschaft weiß das zu schätzen: "Es ist für uns immer eine große Ehre, wenn Frau Merkel bei Turnieren oder Länderspielen zu Gast ist", hat Bundestrainer Joachim Löw gesagt. Begegnungen mit Merkel seien auch für die Spieler "immer sehr interessant, weil sich stets gute Gespräche entwickeln - nicht nur über Fußball."
Merkels Umgang mit dem Leder findet inzwischen Nachahmer: Bei der WM in Brasilien ließ sich auch Chiles Staatspräsidentin Michelle Bachelet nach dem 3:1-Sieg über Australien am vergangenen Freitag in der Mannschaftskabine blicken und sich dort mit Trainer Jorge Sampaoli und Mittelfeldspieler Arturo Vidal fotografieren. Kroatiens Regierungschef Zoran Milanovic ist ebenfalls eigens zum Vorrundenspiel seiner Mannschaft angereist - er verfolgte das Auftaktspiel gegen Gastgeber Brasilien am Donnerstag von der Ehren-Tribüne aus.
Allerdings müssen sich fußballaffine Regierungschefs darauf einstellen, dass ihr Torjubel in diesem Jahr etwas weniger prominent gezeigt wird als in der Vergangenheit: "Es ist schön, eine Aufnahme von den VIP-Tribünen zu haben. Aber der Fokus liegt auf dem Geschehen auf dem Platz", sagte Niclas Ericson, Direktor der Fernseh-Abteilung beim Fußball-Weltverband Fifa. Vielerorts wurde das als Hinweis darauf gedeutet, dass die Fifa den Fans mehr Pässe und weniger Politiker zeigen will. Dass es sich dabei um eine Vorsichtsmaßnahme handle, mit der umstrittenen Staatschefs ein Pfeifkonzert im Stadion erspart werden soll, wies Ericson aber zurück.