Kampf um die Macht im Irak:"Wehrt euch, rächt euch"

Der Anschlag auf die Askarijeh-Moschee droht zum Symbol für das Zerbrechen der staatlichen Einheit zu werden: Ob Schiiten, Sunniten und Kurden danach noch unter einer einzigen Autorität leben können, ist fraglich.

Rudolph Chimelli

Nie war der Irak dem Bürgerkrieg so nahe wie nach dem Anschlag auf die Askarijeh-Moschee in Samarra und den Racheakten von Schiiten an sunnitischen Muslimen. Die Zerstörung dieses einen Bauwerks hat die schiitische Bevölkerungsmehrheit viel stärker aufgewühlt als der Blutzoll, den ihr die Bombenanschläge sunnitischer Extremisten fast täglich abverlangen.

Der Einsturz der goldenen Kuppel droht somit zum Symbol für das Zerbrechen der staatlichen Einheit überhaupt zu werden. Ob Schiiten, Sunniten und Kurden danach noch unter einer einzigen Autorität leben können, ist fraglich.

Auch in der Vergangenheit funktionierte das nur, wenn die Bevölkerungsgruppen des heutigen Irak von starker Hand regiert wurden: zu Beginn von der britischen Kolonialmacht, später von national-arabischen Diktatoren, zuletzt von Saddam Hussein. Eintracht unter den Religionen ist fast nicht möglich, wie auch der Anschlag in Samarra wieder eindrucksvoll beweist.

"Erhebt euch, Schiiten!", riefen nach der Explosion Demonstranten vor dem Haus des Ayatollah Ali Sistani in Nadschaf. Der in höchstem Ansehen stehende Geistliche hat seinen Anhängern bisher nur selten Ratschläge für das politische Leben gegeben.

Selbst nach schweren Attentaten hat er sie gemahnt, sich nicht provozieren zu lassen, sondern Ruhe zu halten. Noch im Sommer 2004 genügte seine Rückkehr in die Stadt, um den jungen Feuerkopf und radikalen Schiitenführer Muktada al-Sadr zum Abbruch seines Aufstands gegen die Amerikaner zu bringen.

"Wehrt euch, rächt euch!", schreien jetzt wütende Schiiten, die sunnitische Moscheen angreifen und Sunniten verfolgen. Ob Sistanis Wort den Sturm beruhigen könnte, ist noch nicht erprobt.

Den politischen Führern eben jener Schiiten hat der angebliche Führer der sunnitischen Terroristen, Abu Mussab al-Sarkawi, im vergangenen Herbst "den totalen Krieg" erklärt. Ob Sarkawi tatsächlich noch lebt, ist umstritten.

Aber er hat im Irak zahllose Anhänger, die seinen Worten nur allzu gern Taten folgen lassen. Den Amerikanern ist angeblich schon vor längerer Zeit ein strategischen Plan Sarkawis in die Hände gefallen, laut dem die Schiiten durch Angriffe zu Racheakten provoziert werden sollen.

Ziel sei ein Bürgerkrieg, der das Land unregierbar mache. Die schiitischen Führer sind nach der Auffassung Sarkawis "Augen und Ohren der Amerikaner im Irak".

Der Anschlag von Samarra würde sehr gut in dieses Konzept passen. Denn die Schiiten sind in den Wahlen bei weitem die stärkste Kraft geworden, wenn sie auch keine absolute Mehrheit gewannen. Die Regierung wird von ihnen geführt, auch wenn sie kurdische oder sunnitische Koalitionspartner brauchen.

Den Forderungen sunnitischer Vertreter nach Revision der Verfassung, die ihrer Volksgruppe mehr Rechte bringen würde, widersetzen sich die Schiiten. Anders als durch Gewalt lässt sich, zumindest in den Augen sunnitischer Extremisten, eine dauerhafte schiitische Vorherrschaft nicht mehr verhindern.

Moderne Kunstschöpfung

Bis zum Sturz des Diktators Saddam Hussein und seiner Baath-Partei hatten umgekehrt sunnitische Araber die Alleinherrschaft ausgeübt, obwohl sie nur ein Fünftel oder höchstens ein Viertel der Bevölkerung stellen. Denn den Irak im Sinne einer historisch-geografischen Einheit gibt es nicht.

Das Land ist ein moderne Kunstschöpfung, das sich die Briten nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des osmanischen Vielvölker-Reiches aus dessen drei Provinzen Mossul, Bagdad und Basra nach ihren alleinigen Interessen bauten.

Die Regierung in London wollte die Kontrolle über das Erdöl Mesopotamiens und den nördlichen Zugang zum Golf. Was die Einwohner wollten, interessierte die neuen Herren nicht.

Zum harmonischen Zusammenleben sind die verschiedenen Volksgruppen heute so wenig geeignet wie damals. Auch die Kurden nicht. Sie sind nach ihrem jahrzehntelangem Kampf gegen die Araber entschlossen, sich einem neuen Irak nur insoweit einzugliedern, als eine Zentralregierung in Bagdad ihre Autonomie respektiert.

Diese kommt heute in der Praxis der Unabhängigkeit sehr nahe. So dürften Truppen der Zentralregierung, falls es sie bereits gäbe, die kurdischen Gebiete des Nordens nicht betreten. Auch beharren die Kurden darauf, dass sie in ihren Provinzen die Entscheidungen der Regierung nur zu befolgen haben, so weit sie mit ihren eigenen Interessen übereinstimmen.

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