Kampf gegen prorussische Separatisten:Bombenrätsel in der Ukraine

Crisis in Ukraine

Ein ukrainischer Soldat bei der Raucherpause: Die Armee dementiert den Einsatz von Streubomben, das Kabinett will der Frage nachgehen.

(Foto: Roman Pilipey/dpa)

Der Vorwurf ist in der Welt: Die ukrainische Armee soll Streumunition im Osten des Landes eingesetzt haben. Kiew dementiert das. Im Besitz der geächteten Bomben sei man aber schon.

Von Cathrin Kahlweit, Kiew

"Wir sind militärisch schwach, aber wir sind keine Idioten", sagt der Gesprächspartner, der um strikte Anonymität gebeten hatte. "Wir setzen keine Streubomben in besiedelten Gebieten ein. Wir setzen überhaupt keine ein." Aber ist die Ukraine denn im Besitz der international geächteten Munition? Ein kurzer Anruf, am Telefon ist ein General. Er wird, nach alter Sitte, mit Vornamen und Vatersnamen begrüßt, dann die Frage: "Haben wir Streubomben?" Die militärisch knappe Antwort: "Ja, natürlich. Aber die sind unter Verschluss."

Zumindest die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) zweifelt daran. In einer weltweit beachteten Meldung vom Dienstag ließ sie wissen, die ukrainische Armee könnte Streubomben in der Ostukraine eingesetzt haben - jene Munition, die sich nach dem Abschuss in Submunition aufspaltet, besonders schwere Schäden anrichtet und per Konvention von 114 Staaten abgelehnt wird.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) meldete einen Tag später Zweifel an; man habe keine Informationen, die das bestätigten. OSZE-Sprecher Michael Bociurkiw sagte der SZ: "Wir haben etwa 100 Beobachter in der Ukraine, die ein sehr großes Territorium überwachen. Sollten wir Hinweise auf Streubomben finden, würden wir das selbstverständlich sofort melden." Aber, schränkt Bociurkiw ein: "Natürlich sind einige Gegenden auch für uns unzugänglich."

Armee und Präsident fordern "echte Beweise"

So oder so: Der Vorwurf ist in der Welt, und er wiegt schwer. Die Armeeführung in Kiew hatte mit einem wütenden Dementi auf die vorgelegten Indizien geantwortet, nach denen die Streubomben von ukrainisch besetztem Territorium gekommen seien. Die Menschenrechtsorganisation hatte angegeben, eine Woche lang im Osten recherchiert, Überreste der Munition gefunden und von Augenzeugen entsprechende Aussagen gesammelt zu haben. Gleichwohl sagten weder Armee noch Präsident schnelle eigene Ermittlungen zu, sondern forderten "echte Beweise".

Diese Tonlage ist nicht überall in der Regierung auf Zustimmung gestoßen, auch wenn es offiziell niemanden gibt, der tatsächlich von einem Streubomben-Einsatz durch Kiewer Soldaten ausgeht. Von einer falschen Reaktion ist die Rede und davon, dass man solche Vorwürfe trotz allem prüfen, nicht totreden sollte.

Aber: In drei Tagen sind Parlamentswahlen, und nur wenige Politiker gehen gern an die Öffentlichkeit mit einem Thema, welches das Image der Ukraine beschädigen könnte. Eine Ausnahme ist der Sonderbotschafter im Außenministerium, Oleksandr Scherba; er äußert sich deutlich: "Jeder Zivilistentod ist für die Ukraine eine Tragödie. Wir sind offen für jegliche Untersuchung. Es gab und wird keine Befehle unsererseits geben, die Zivilbevölkerung mit Streubomben oder auf sonstige Weise zu beschießen." Sollte aber die Untersuchung doch ergeben, dass die ukrainische Armee mit diesen Zwischenfällen zu tun hatte, dann würden die Schuldigen aufs Schärfste verurteilt und bestraft. Laut Außenministerium soll diese Frage am 28. Oktober im Kabinett besprochen werden, während des Kiew-Besuchs des Geschäftsführers von HRW.

Und der Gesprächspartner, der das Ohr des Präsidenten und das Ohr der Generalität hat? Er beteuert, dass man die Streubomben-Konvention zwar nicht unterzeichnet habe, sich aber an ihren Inhalt gebunden fühle. Dass auch die Freiwilligen-Verbände im Osten, deren Verhalten "nicht immer gesetzestreu" sei, mit Sicherheit nicht über schwere Artillerie verfügten, die zum Abschuss von Kassettenbomben nötig sei. Und: Die Frontlinie sei so unüberschaubar, dass niemand auf den Meter genau sagen könne, wer von wo schießt.

"Ihr nächstes Ziel ist Charkiw"

Seine Vermutung: Die Russen hätten ein Interesse, es so aussehen zu lassen, als habe die Ukraine international geächtete Munition genutzt, um die Glaubwürdigkeit der Regierung in Kiew zu untergraben.

Der Krieg im Osten wird zunehmend nicht nur eine militärische, sondern auch eine politische und ökonomische Belastung für Regierung und Präsident in Kiew. Das Gewaltmonopol des Staates sei auch dort in Gefahr, heißt es, wo die ukrainische Armee offiziell die Lage kontrolliert. Und der Winter werde zwar mutmaßlich keine Hungeraufstände mit sich bringen, aber doch die Unzufriedenheit in der Bevölkerung massiv verstärken. Und der Krieg werde weitergehen, mit neuer Intensität, spätestens im kommenden Frühjahr.

Die Aussicht, dass prorussische Separatisten sich in ihren "autonomen Volksrepubliken" dauerhaft festsetzten, sei da nicht einmal die schlimmste aller Vorstellungen, sagt ein einflussreicher Politikanalyst. Schließlich sei ein zweites Transnistrien, ein eingefrorener Konflikt, nicht per se bedrohlich. Viel schlimmer sei, dass prorussische Kräfte alles daran setzen würden, die Ukraine als Staat weiter zu schwächen. "Ihr nächstes Ziel ist Charkiw."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: