Süddeutsche Zeitung

Kampf gegen IS:Türkische Soldaten, die niemand will

An der Grenze stehen Panzer, aber bislang hält sich die Türkei zurück. Die Kritik daran wächst. Aber was, wenn türkische Truppen wirklich in den Häuserkampf in Kobanê ziehen? Die Kurden wollen das nicht. Und für die Nato könnte der Ernstfall eintreten.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Washington trommelt die Militärstrategen der internationalen Anti-IS-Allianz zusammen, der deutsche Außenminister ist in Saudi-Arabien, um für den Kampf gegen die Extremisten des "Islamischen Staats" zu werben, in Deutschland demonstrieren Kurden aus Solidarität mit der bedrängten syrischen Enklave Kobanê - und was tut die Türkei? Sie blickt nach innen.

"Was hat Kobanê mit der Türkei zu tun? Mit Istanbul, mit Ankara?" So spricht Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Der internationale Druck auf die Türkei wächst, dem Drama vor der eigenen Haustür nicht bloß zuzuschauen. Aber der Präsident der Türkei redet, als ginge dies alles sein Land nichts an. Kann das sein?

Die türkische Regierung wirkt in diesen Tagen unentschlossen, ja ratlos. Damit aber ist sie nicht allein. Denn was genau von Ankara erwartet wird, bleibt bislang vage: Soll die Regierung die rund 10 000 türkischen Soldaten, die bereits an der syrischen Grenze stehen, in den Häuserkampf nach Kobanê schicken?

Vizepremier Yalçın Akdoğan hat nun mit einer Gegenfrage geantwortet: "Sind wir eure Söldner?" In einem TV-Interview sagte Akdoğan in der Nacht zum Samstag, sollte es der internationalen Gemeinschaft ernst sein mit der Bekämpfung des IS, "dann lasst uns das zusammen machen". Türkische Soldaten würden sich ja opfern, zu "Märtyrern" werden, so Akdoğan, aber was brächte das "ohne Plan für Syriens Zukunft".

Akdoğan weiß, dass kein Nato-Land und auch keiner der neuen arabischen Verbündeten der Anti-IS-Allianz bislang bereit ist, Bodentruppen nach Syrien zu schicken, auch nicht in die Kurden-Stadt Kobanê, die inzwischen von drei Seiten vom IS bedrängt wird. Und einen Plan zur Beendigung des seit über drei Jahren andauernden Bürgerkriegs in Syrien hat US-Präsident Barack Obama auch nicht.

"Alles so kompliziert"

Aber dies ist nicht der einzige Grund für die türkische Zurückhaltung. Am Wochenende hat sich auch Cemil Bayık gemeldet, einer der Gründer und führenden Köpfe der militanten Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Deren Schwesterorganisation, die PYD, verteidigt derzeit Kobanê - gemeinsam mit der US-Luftwaffe. Bayık hat gesagt, was die Kurden nicht wollen: türkische Soldaten in Kobanê. Den Parlamentsbeschluss, der Ankara den Einmarsch schon seit Anfang Oktober erlaubt, nannte Bayık eine "Kriegserklärung" - gegen die Kurden.

"Das ist alles kompliziert, die Türkei und der IS und die PKK", schreibt Murat Yetkin, der Ankara-Korrespondent der Zeitung Hürriyet. US-Außenminister John Kerry weiß dies auch. Kerry hat der Voice of America gesagt, man müsse wissen, dass "verschiedene Seiten die Türkei nicht in Kobanê haben wollen, einschließlich der Kurden, der Iraker, der Syrer und so weiter".

Wen Kerry mit "und so weiter" meint, ließ er offen. Wohl aber auch Amerika und die gesamte Nato. Schließlich könnte ein türkischer Vormarsch den Nato-Bündnisfall auslösen, falls die IS-Extremisten danach von Syrien aus das Nachbarland angreifen sollten. Die Granaten, die bislang über die türkische Grenze hinwegflogen, galten noch als Querschläger, nicht als gezielte Aggression. Das könnte sich dann ändern.

Vertreibt der IS die letzten - wohl nur noch ein paar Hundert - kurdischen Kämpfer aus Kobanê, dann würden die Dschihadisten rund 200 Kilometer der gut 900 Kilometer langen syrisch-türkischen Grenze kontrollieren. Dies wäre ein beachtlicher Triumph für den IS, der stets Erfolge für die Rekrutierung neuer Kämpfer braucht.

Um das zu verhindern, verlangen die Kurden, in der Türkei einen Korridor einzurichten, durch den Waffen, Munition und Kämpfer aus zwei anderen syrischen Kurdenenklaven aus dem Irak und der Türkei ungehindert Kobanê erreichen. "Wenn es weitere kurdische Kräfte gibt, die um Kobanê kämpfen wollen, dann muss die türkische Regierung den Durchfluss ermöglichen", findet auch SPD-Fraktionsvize Rolf Mützenich. "Einen Korridor, der das erlaubt, halte ich für sinnvoll", sagte Mützenich am Sonntag in Berlin der Süddeutschen Zeitung.

Straßenschlachten in der Türkei

PYD-Chef Salih Muslim war in der vergangenen Woche in Ankara. Danach zeigte sich Salih überraschend optimistisch, dass den Kurden dieser Transit erlaubt werde. Aber Vizepremier Akdoğan hat jetzt gesagt, die Türkei werde keinen solchen Korridor öffnen. Dies sei "rechtlich unmöglich".

Zwischen Muslims Besuch in Ankara und Akdoğans Nein liegen wenige Tage - mit 37 Toten. Diese Menschen sind nicht in Kobanê gestorben, sondern in der Türkei, bei Ausschreitungen im mehrheitlich kurdischen Südosten. Zu den Protesten hatte die legale Kurdenpartei HDP aufgerufen. Auf die Straßen gingen aber auch Islamistische und Nationalisten.

Es gab Straßenschlachten, auch mit scharfen Waffen. In Bingöl wurden zwei Polizeioffiziere erschossen. Inzwischen haben Sicherheitskräfte dort vier angeblich an dem Mord beteiligte Männer in einem Auto erschossen. Premier Ahmet Davutoğlu sagte, "innerhalb von zwei Stunden" seien "die Terroristen bestraft" worden.

Für diese Äußerung wird der Regierungschef nun heftig kritisiert, wie zuvor schon Innenminister Efkan Âlâ, der gedroht hatte, Gewalt werde auf "gleiche Weise" vergolten. Das Oppositionsblatt Today's Zaman meinte, Âlâ rede wie ein "Mafiosi".

In der Nacht zum Samstag war es trotz der aufgeladenen Atmosphäre erstaunlich ruhig. In Istanbul zogen zwar Hunderte Polizisten in Zivil, teils mit Gasmasken in der Hand, durch die größte Einkaufsstraße İstiklâl, aber Zusammenstöße blieben aus. Die Kurdenpartei HDP selbst hatte zur Ruhe aufgerufen.

Davor hatte es bittere Kommentare wegen der Krawalle gegeben, nach dem Motto: Die Kurden wollen Hilfe in Kobanê, aber warum zerstören sie dann Geschäfte, Schulgebäude und sogar Autos des Blutspende-Dienstes des Roten Halbmonds in der Türkei?

Die Kurdenproteste in der Türkei haben sich nicht in Massendemos verwandelt. Die türkische Gesellschaft plagt angesichts des syrischen Bürgerkrieges schon lange die Angst, der Konflikt könnte auf das eigene Land übergreifen. Der IS hat schon vor einer Weile mit Anschlägen in Istanbul und anderen Großstädten gedroht, und viele Türken fürchten, genau dies könnte passieren, sollte die türkische Armee in Kobanê doch einrücken - auch wenn dort kein Kurde mehr kämpft.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2014/gal
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