Kampf gegen das Rauchen:Hitler, das "Rassengift" - und die Spätfolgen

Deutschlands Widerstand gegen die Tabakgesetze der EU ist ein verstecktes Erbe der nationalsozialistischen Vergangenheit. Hitler förderte die "Erforschung der Tabakgefahren" - und führte den Aufstieg des Nationalsozialismus darauf zurück, dass er das Rauchen aufgegeben hatte.

Von Robert N. Proctor

Möglicherweise wird es in Deutschland in diesem Jahr ein Rauchverbot geben. Oder zumindest in Bayern. Oder wenigstens ein teilweises Verbot.

Oder vielleicht ein paar neue Verordnungen? Zunächst wurde allerdings ein dringendes Problem der Gesundheitspolitik zu einer Föderalismusdebatte degradiert.

Die Hemmungen, gegen das Rauchen zu regieren, sind jedoch nichts Neues in Deutschland. Seit europäische Regierungen in den neunziger Jahren die ersten Versuche unternahmen, das Rauchen zu verbieten oder drastisch einzuschränken, waren Deutschland und Griechenland die letzten Standhaften gegen Anti-Tabak-Maßnahmen.

Während Griechenland ganz einfach stur bleibt, weil Rohtabak ein wichtiges Exportgut ist, wurzelt die deutsche Zurückhaltung letztlich in den Schwierigkeiten mit der eigenen Vergangenheit. Das ist beim Thema Rauchen eigentlich absurd, vor allem, wenn man bedenkt, dass Deutschland einst die weltweit fortschrittlichste Tabak-Forschung und -Politik betrieb.

Deutschland war tatsächlich das erste Land, in dem nachgewiesen wurde, dass Rauchen Krebs verursacht; ein weitgehend vergessenes Kapitel der Medizingeschichte. Es waren deutsche Wissenschaftler, die auf dem Pathologenkongress von 1923 darlegten, dass der Lungenkrebs epidemische Ausmaße angenommen hatte, und sie waren die ersten, die die Fallstudienmethode der Epidemiologie anwendeten, um die Verbindung zwischen Rauchen und Lungenkrebs nachzuweisen.

Franz Hermann Müller, Erich Schöniger und Eberhard Schairer sind Namen, die im Pantheon deutscher Medizin neben denen von Robert Koch, Rudolf Virchow und Paul Ehrlich in einer Reihe stehen sollten.

Kampf gegen das "Rassengift"

Doch vieles auf diesem Gebiet ist vergessen, weil wichtige Forschungsarbeit in der Zeit des Nationalsozialismus geleistet wurde, als Rauchen als ,,Rassengift'' bekämpft wurde, verbunden mit falscher Ernährung, Asbest, Zigeunern und Juden.

Die Faschisten legten großen Wert auf die Tatsache, dass Churchill, Roosevelt und Stalin rauchten, während Hitler, Mussolini und Franco Nichtraucher waren. Hitler selbst führte den Aufstieg des Nationalsozialismus darauf zurück, dass er das Rauchen aufgegeben hatte: Im Jahr 1919 hatte er seine Zigaretten in die Donau geworfen und nie wieder eine angerührt.

Rauchen war in der Perspektive der Nationalsozialisten vor allem eine Abhängigkeit von etwas Fremden, während der Körper doch dem Führer gehören sollte. Tabak war Hitlers ,,Tischgesprächen'' zufolge die Rache des Roten Mannes dafür, dass der Weiße ihm den Schnaps gebracht und ihn dadurch zugrundegerichtet habe.

Im Jahr 1941 wies Hitler persönlich aus der Reichskanzlei 100.000 Reichsmark an die Universität Jena an, um den Grundstock für das ,,Institut zur Erforschung der Tabakgefahren'' zu schaffen. Unter der Regie des Rektors und SS-Manns Karl Astel wurde dann konzentriert daran gearbeitet, die Verbindung von Tabak und Krebs nachzuweisen.

Unter nationalsozialistischer Wissenschaft verstehen wir heute jedoch: Mengele, Buchenwald, grausame Menschenexperimente, Pseudowissenschaft. Die Realität ist komplexer, in gewisser Weise auch unheimlicher, denn die Tabakwissenschaft der Nazis fand ohne Grausamkeiten oder Menschenexperimente statt.

Dass die Nationalsozialisten sinn- und wertvolle Wissenschaft betrieben, wenigstens bei der Erforschung der Folgen des Rauchens, ist uns nicht genehm, bringt unser Bewusstsein über diese Ära ins Wanken: Doch ist sie uns näher, als wir glauben.

Rauchen als Widerstand

Für die Tabakindustrie muss dieser geschichtliche Hintergrund wie eine Gabe des Himmels sein. Was gibt es Besseres, als die Nationalsozialisten zum Feind gehabt zu haben? Tabak war in der Nachkriegszeit nicht nur Währung oder ein Geschenk aus Amerika. Das Rauchen bekam das Image des Widerstands.

Hollywood hätte die Geschichte nicht besser schreiben können: Die größten Finsterlinge der Geschichte waren militante Nichtraucher, also müssen die Kritiker des Rauchens Nationalsozialisten sein und Raucher Antifaschisten. Die Tabakindustrie hat diese Karte immer wieder ausgespielt. In Amerika gibt es sogar Wörter wie ,,Nico- Nazis'' und ,,Tabak-Faschismus''.

In der Werbung können solche Parallelen subtil sein, zum Beispiel in der Werbekampagne, die Rauchen mit ,,Freiheit und Abenteuer'' gleichsetzt, wobei Freiheit ganz klar an erster Stelle in der Rangordnung jener Attribute steht, die dem Rauchen zugesprochen werden. Sie können auch überraschend direkt sein, wie in der Anzeige gegen Tabakregulierungen, die Philip Morris in der europäischen Ausgabe der Newsweek schaltete.

Unter der Überschrift ,,Wo werden sie den Strich ziehen'' war eine Karte von Amsterdam zu sehen, auf der ein Viertel östlich des Zentrums als ,,Raucherzone'' ausgewiesen war. Unschönes Detail: Während der deutschen Besatzung war dieser Bezirk das Amsterdamer Judenghetto.

Deutschlands Widerstand gegen die Tabakgesetze der Europäischen Union ist ein verstecktes Erbe der nationalsozialistischen Vergangenheit. Deutschlands Nachkriegs-Tabak-Wunder blühte unter der Gleichsetzung von Rauchen mit Freiheit auf - und von Rauchverboten mit Tyrannei. Wie anders lässt sich die Liebe der Linken zum Rauchen erklären und umgekehrt die puritanische Abstinenz der reuelosen Rechten?

Hitler, das "Rassengift" - und die Spätfolgen

Die Großzügigkeit der Amerikaner mit Tabakwaren half, diesen Pakt zu besiegeln. Wenige Leute wissen heute noch, dass ein ganzes Drittel des ,,Lebensmittel''-Anteils des Marshall-Plans aus Virginia-Tabakblätter bestand, die gegen die Proteste europäischer Regierungen geliefert wurden. Allein im ersten Jahr waren das 90.000 Tonnen.

Es ist an der Zeit, diese langen Schatten des Faschismus zu überdenken und die politische Geschichte des Rauchens zu schreiben. Die Industrie will uns sowieso weismachen, dass Zigaretten zwar geraucht, aber nicht hergestellt werden.

Wir sollen uns daran erinnern, dass Hitler den Tabak nicht mochte, aber wir sollen vergessen, dass die Braunhemden der SA ihre eigene Zigarettenmarke hatten, die ,,Sturmzigarette'', durch deren Verkauf viele ihrer Operationen finanziert wurden.

Nicht zu vergessen die Steuereinnahmen, an die sich Regierungen gewöhnen wie die Raucher ans Nikotin. Die Tabaksteuer machte in den USA schon 1880 ein Drittel aller Steuereinnahmen aus, und modernen Regierungen fällt es schwer, diese ,,zweite Abhängigkeit'' aufzugeben. China bezieht derzeit zehn Prozent seiner staatlichen Einnahmen aus der Tabaksteuer, so viel wie in Deutschland vor siebzig Jahren.

Der Sockel des Gletschers

Nun wissen wir alle, dass der Tabak viele Tode verursacht. Wir wissen um die Gifte, die im Tabak enthalten sind, die sich jedes Jahr zu ein paar Millionen Kilogramm summieren, weil selbst zehn Milligramm Teer pro Zigarette bei 5,7 Billionen Zigaretten, die jedes Jahr weltweit geraucht werden, genug Teer zusammenkommt, um 5700 Eisenbahnwaggons bis zum Rand zu füllen - es kommen noch jeweils 10 000 Kilogramm Ruß, Arsen, Zyanid und ,,polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe'' dazu, die jeden Toxikologen vor Angst erschaudern lassen.

Und wir kennen die Suchtgefahren, denn wir wissen, was in den Akten aus den geheimen Archiven der Tabakindustrie steht. Wir haben die Dokumente gelesen, in denen führende Hersteller schon 1963 zugaben, dass sie ,,ihr Geschäft mit dem Verkauf von Nikotin und damit einer süchtig machenden Droge'' machen.

Wir wissen, dass die Tabakentwöhnung schwieriger ist als die von Kokain oder Heroin und dass die Industrie das pharmakologische Potential von Zigaretten kunstreich austariert hat, indem sie diese zum Beispiel mit Ammoniak anreichert, um die Kunden süchtig zu machen. Wir wissen, dass Tabak-Mogule ihr Geschäft als eine Art Gletscher beschreiben, wo neue Kunden wie frischer Schnee ausgleichen, was unten durch die tödlichen Folgen von Lungenkrankheiten wegschmilzt.

Und wir kennen die Kampagne, die Unwissenheit erzeugt. ,,Unser Produkt ist der Zweifel'', lautete der infame Slogan von Brown and Williamson im Jahr 1969: Wir stellen Zigaretten her, aber wir lassen die Raucher im Dunkeln. Die Industrie heuerte Wissenschaftler an, um mit Pseudoforschungen Tatsachen zu verschleiern, was in dem Film ,,Thank You for Smoking'' - ,,Danke, dass Sie rauchen'' - sehr treffend dargestellt wird, in dem ein Dr.Eberhardt Van Grupten Mundt rund um die Uhr damit beschäftigt ist, die ,,Schwerkraft zu widerlegen''.

Warum aber dulden wir dann das Rauchen? Woher diese außergewöhnliche Toleranz für die weltweit am leichtesten zu vermeidende Todesursache, für die weltweit größte Müllquelle, die schlimmste Todesursache von allen? Warum dieses Glacéhandschuhe?

In Amerika, der Heimat des goldenen Tabakblattes, wissen wir, warum dem Rauchen ein Freibrief eingeräumt wurde. Es ist die Macht der Industrie, das Brot von Hunderttausenden von Farmern und Fabrikarbeitern, seit Reynolds 1913 die ,,Oriental Cigarette'' (,,Camels'') massentauglich machte.

"Wir brauchen ein neues Denken"

Auf dem Gebäude des Kapitols finden wir Tabakblätter in Stein gemeißelt - Tabak ist so amerikanisch wie Apfelkuchen oder Baseball. Wendet man sich gegen Tabak, wendet man sich gegen Amerika als solches.

Joseph Califano, innenpolitischer Berater in Lyndon B. Johnsons Kabinett, musste dies 1960 erfahren, als er den Präsidenten bat, sich des Tabaks anzunehmen und ihm gesagt wurde: ,,Wir haben schon den Süden verloren, weil wir für die Bürgerrechte kämpften. Wenn wir uns den Tabak vornehmen, werden die Demokraten die Präsidentschaft verlieren.''

Wir brauchen ein neues Denken über die Ethik und Politik des Rauchens, wobei auch die Themen Umweltverschmutzung und Müllbeseitigung genauso einbezogen werden müssen wie Arbeitsschutz und Sicherheit, Recht auf saubere Luft, und sogar globaler Umweltschutz, weil für Tabakanbau ganze Wälder abgeholzt werden.

Vielleicht erfüllt Tabak ja sogar den Tatbestand eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Wir müssen über das Rauchen nachdenken wie über Asbest, Pestizide und radioaktive Verseuchung. Und noch ein interessantes Detail - all diese Stoffe sind in einer Zigarette enthalten.

Der Autor ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Stanford University. Sein Spezialgebiet ist ,,Agnotology'' - die kulturelle Produktion von Unwissen. Er war Sachverständiger in mehreren Prozessen gegen die Tabakindustrie.

Deutsch von Helmut Mauró

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