Kampagne zur Bundestagswahl:Warum die SPD wieder zu scheitern droht

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz

Kein echter Martin Schulz: Blick in das Fenster eines SPD-Bürgertreffs bei Hannover

(Foto: dpa)

Martin Schulz hat einen Zehn-Punkte-Plan, macht eine Sommerreise und warnt vor einer neuen Flüchtlingskrise. Nur eines hat er nicht: eine echte Wahlkampagne. Für Merkel ist das ein Glück.

Essay von Stefan Braun, Berlin

Die Kanzlerin greift die Demokratie an? Sie schläfert die Politik ein? Ist schuld, dass nicht ausreichend debattiert wird? Die Klagelieder sind nicht neu. Sie kommen aus Medien und Politik. Falsch sind sie trotzdem. Versagt haben bislang die Sozialdemokraten. Nach 2009 und 2013 droht 2017 zum dritten Mal ein Wahljahr, in dem die SPD zwar viel erzählt und aufschreibt, aber es nicht schafft, eine vom Herzensthema Gerechtigkeit geleitete Wahlkampagne zu organisieren. Der Kanzlerin gefällt das: Sie wird nicht wirklich herausgefordert.

Dabei versucht Martin Schulz vieles. Er hat ein Wahlprogramm schreiben lassen, einen Parteitag überstanden trotz Tausender Änderungsanträge. Außerdem macht er eine Sommerreise und besucht dabei auch schmerzvolle Orte wie das Hamburger Schanzenviertel, in dem beim G-20-Gipfel ein linker Mob getobt hatte. Dazu hat er einen Zehn-Punkte-Plan präsentiert, mit einer Digitalisierungsoffensive, staatlichen Investitionspflichten, einem Schulausbauprogramm. Und jetzt hat er auch noch eine Warnung vor einer neuen Flüchtlingskrise ausgestoßen, um seinem Wahlkampf neuen Schwung zu geben.

Schulz kämpft, aber ...

Das ist nicht nichts, natürlich nicht. Aber Schulz kämpft, wie die SPD es sehr oft getan hat - mit vielen Themen, vielen Zielrichtungen, vielen Botschaften. Sie sollen schwungvoll wirken, haben der Partei aber keine klare Richtung gegeben. Am stärksten zeigt sich das bei seiner jüngsten Volte. Seiner Mahnung vor einer neuen Flüchtlingskrise. Recht hat er, dass man sich kümmern muss; das gilt auch für die Bundesregierung, der die SPD noch immer angehört. Widersprüchlich aber wird es, wenn er Italien aktuell helfen möchte, aber erklärt, dieses Mal seien die anderen dran. Und wenn er den Flüchtlingskurs der Regierung 2015 als falsch und unsolidarisch geißelt, obwohl er ihn als Europaparlamentspräsident unterstützt hat. Das Thema ist wichtig, aber Schulz hat keine Richtung, die zu seinem solidarischen Grundanspruch passt. Diese Art Energie hilft nicht, sie entfaltet nur zerstörerische Kraft.

Was wäre eine Kampagne? Was wäre in der Vergangenheit eine gewesen? Für eine erste Antwort hilft ein Blick zurück, zum Wahlkampf von Frank-Walter Steinmeier 2009. Er hat genau das getan, was Schulz auch tut: Wahlprogramm, Sommerreise, Deutschland-Plan. Aber er hat kein Thema ins Zentrum gestellt. Eines, um das er sich immer und immer wieder gekümmert hätte. Eines, das er zum Kern seiner Reise durch Deutschland gemacht hätte. Dabei hätte es dieses Thema gegeben. Es wäre das Thema Bildung gewesen.

Nicht im langweiligen Ressortzuschnitt des Ministeriums, sondern in einem umfassenden Sinne, sozial, wirtschaftlich, gesellschaftlich, als Innovationskern des Landes. Die Kitas waren in keinem guten Zustand, außerdem gab es immer noch viel zu wenige; die öffentlichen Schulen waren erst recht nicht gut ausgestattet, gleiches galt für das Gros der Universitäten; selbst die Fortbildung war längst nicht so finanziert, wie sie es hätte sein müssen. Zumal in Zeiten der Digitalisierung. Mit einem Satz: Das gesamte System, das Deutschlands Reichtum als kreatives und außerdem sozial gerechtes Land ausmacht, stand auf der Kippe.

Was also wäre gewesen, wenn Steinmeier das als soziale Frage, als wirtschaftspolitische Frage, als Gerechtigkeitsfrage, als entscheidende Zukunftsfrage des Landes thematisiert hätte? Was wäre gewesen, wenn ihn seine Reise durch Deutschland fast ausschließlich zu diesen Stätten des Rückstands geführt hätte. Immer wieder zu anderen Schulen, anderen Universitäten, anderen Kitas und zu vielen Bildungsforschern, die den Mangel seit Langem thematisieren?

Angela Merkel, damals vier Jahre im Amt, hatte ihm die Antwort auf diese Frage unfreiwillig selbst gegeben. Ein Jahr vor der Wahl hatte sie eine Bildungsreise durch Deutschland gemacht, um zu zeigen, dass sie das Problem erkannt habe. Die Folge war aber nicht, dass danach alles besser wurde. Ihre Reise hatte, ganz im Gegenteil, einen riesigen Konflikt mit den damals noch mächtigen CDU-Ministerpräsidenten heraufbeschworen.

Ob Roland Koch oder Jürgen Rüttgers, Christian Wulff oder Günther Oettinger - sie alle waren von Merkels Reise nicht begeistert, sondern fühlten sich auf den Schlips getreten. Es sei Länderkompetenz, riefen sie - ohne zu merken, dass das Publikum dieses Argument schon lange nicht mehr akzeptierte. Was für eine Steilvorlage für einen SPD-Kanzlerkandidaten. Steinmeier hätte nicht nur die Mängel im Bildungssystem offen legen können, sondern auch noch den Streit unter Christdemokraten. Eine große Chance - eine vertane Gelegenheit.

Vier Jahre später gab es mit Peer Steinbrück erst recht keine Kampagne. Wie Steinmeier wollte er als Gesamtkunstwerk punkten. Nicht dass es keine Themen gegeben hätte, die man in einer Idee hätte bündeln können.

Unvergessen ist der Leiharbeiter, der die Kanzlerin mitten im Wahlkampf 2013 während einer Talk-Show in die Bredouille brachte, weil er offenlegte, wie wenig die Kanzlerin vom Schicksal der Leiharbeiter mitbekommen hatte. Und vielleicht vergessen, aber nicht unwichtig sind die Studien, die zeigen, wann Steinbrück im damaligen TV-Duell mit Merkel überhaupt punkten konnte: als er sozialpolitische Versäumnisse der Merkel-Regierung anprangerte. Im gleichen Sommer waren Berichte über verheerende Zustände in Schlachtereien bekannt geworden. Dazu Pflege, Rente, Schulen. Was wäre geschehen, wenn ... ? Aus und vorbei. Es folgten vier weitere Jahre Merkel.

Und heute? Wäre eine Kampagne möglich (gewesen). Schulz hat es selbst gespürt, als für ihn alles losging. Er hat das Thema soziale Gerechtigkeit gewählt - und dieses Mal passte die Person zur Idee; auch deshalb stiegen zu Beginn die Umfragen. Schulz hat das Herz am rechten Fleck, dazu ist seine Leidenschaft echt - das war das Grundgefühl, das ihm zum Start nicht nur in der SPD viele Menschen entgegen brachten. Dazu bekam er auf dem Parteitag 100 Prozent - was ein wenig an den Nobelpreis erinnerte, den Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit erhielt. In Erwartung guter Taten, nicht als Preis für eine Leistung.

Doch entscheidend war die Hoffnung, die ziemlich viele mit ihm verbanden. Deshalb hätte gelten müssen: Wer hundert Prozent Stimmen bekommt, der kann, darf und muss versuchen, daraus zu hundert Prozent seinen persönlichen Wahlkampf zu machen. Soziale Gerechtigkeit ist mein Thema? Also zeige ich den Menschen, warum mich das antreibt. Mit Reisen, mit Besuchen, mit Gesprächen, mit Bildern.

Jeder muss spüren, warum Schulz Kanzler werden möchte

Und dann? Hat es viel gegeben, nur keinen Plan für eine Kampagne. Es gab nicht den Mut, nicht die Leidenschaft, nicht die Idee, dieses Herzensthema für den gesamten Wahlkampf ins Zentrum zu rücken. Wer das will, müsste in Pflegeheime fahren, müsste sich mit Leiharbeitern treffen, müsste öffentliche Schulen ansehen und mit Landärzten sprechen.

Er müsste die Regionen ohne Geburtsstationen besuchen und mit prekär angestellten Uni-Dozenten reden. Müsste mit Lehrern, Pflegern, Polizisten sprechen, die das Land stützen und tragen, aber dafür bis heute nicht angemessen entlohnt werden. Und das nicht ein Mal und nicht zweimal, sondern wochenlang. In allen Bundesländern, im Osten, im Westen. Im Idealfall so intensiv, dass sich bei ihm irgendwann jene melden, bei denen er noch nicht gewesen ist. Nur wenn einer über Monate voller Leidenschaft das Gleiche tut, spüren die Menschen, dass es ihm ernst ist.

Natürlich gibt es gegen eine solche Kampagne Einwände. Es gibt sogar viele. Und sie zeigen bei Schulz große Wirkung. Aber sind sie wirklich stark genug, um auf eine Fokussierung zu verzichten?

Da ist Einwand Nummer eins; er kommt vor allem aus den eigenen Reihen: Die SPD sei nun mal eine Volkspartei, sie müsse also viele unterschiedliche Menschen ansprechen.

Dieses Argument ist eine Falle. Es bedient zwar die Interessen vieler Arbeitsgemeinschaften und Ortsvereine der Sozialdemokraten, weil sich halt alle im Programm und Wahlkampf wiederfinden möchten. Aber genau das ist das Problem: So entsteht keine Konzentration; jeder ist mit jedem Thema der Politik dabei - und keines entfaltet die eine große Kraft, die nötig wäre.

Im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale, gibt es dazu fast so viele Meinungen wie Arbeitszimmer. Es gibt stets jemanden, der gegen eine bestimmte Fokussierung gute Argumente vorbringen würden. Stichhaltig sind sie nicht, weil sich die verlorenen Wahlkämpfe 2009 und 2013 genau an dieses Konzept gehalten haben. In einem Moment, in dem zum dritten Mal ein SPD-Wahlkampf seine Kraft verliert, erklärt sich noch mal neu, warum Franz Müntefering und Gerhard Schröder 1998 die Kampa schufen. Es war weniger ein PR-Gag, es war der letztlich erfolgreiche Versuch, den Wahlkampf ohne die Zweifler und Bremser in der Parteizentrale durchziehen zu können.

Das zweite Argument lautet: Wer zu sehr auf soziale Gerechtigkeit setzt, wird immer von der Linkspartei überholt werden. Das ist auf den ersten Blick ein gutes und auf den zweiten ein schlechtes Argument. Gut ist es, weil die Linkspartei bei konkreten Versprechen (Mindestlohn muss bei zehn Euro die Stunde liegen) die SPD immer toppen wird. Das sagt viel aus über die Linkspartei.

Selbst in der besten aller Gesellschaften geht es nicht allen gut

Aber in einer Kampagne geht es nicht nur um eine Zahl; es geht um die Grundbotschaft. Es geht um das zentrale Motiv, warum einer Politik macht. Es geht um das Herz, das einen antreibt. Die Kanzlerin braucht so etwas schon lange nicht mehr. Sie ist, wie sie ist und will so bleiben. Aber wer sie herausfordern will, braucht Energie, um die Leute für sich zu gewinnen. Im Idealfall schafft man eine positive Energie, die anlockt und ansteckt. Keiner hat das zuletzt besser geschafft als der Franzose Emmanuel Macron. Gegen alle Expertenmeinungen übrigens.

Wer eine Grundbotschaft aus vollem Herzen vertritt, dem kann die Linkspartei egal sein.

Das dritte Argument, das gerne gegen eine Kampagne angeführt wird: Wer das Land schlechtredet, hat schon verloren. Auch dieses Argument wirkt zunächst überzeugend und führt dann doch in die Irre. Richtig ist, dass schlechtreden nie gut ankommt. Deshalb geht es darum, das Land besser machen zu wollen. Optimistisch, von Herzen. Also sind alle garstigen Attacken bedenklich.

Zugleich aber darf ein Kandidat sich nicht denen ergeben, die sofort erklären, dass doch sowieso alles gut ist. Es braucht an dieser Stelle schon den Mut und die Leidenschaft, jenen einen Spiegel vorzuhalten, die meinen, es sei alles für alle blendend. Selbst in der besten aller Gesellschaften ist das Unsinn. Solange Politik Wettstreit der Ideen ist, ist die Behauptung immer zu hinterfragen, allen würde es gut gehen.

Die Kunst besteht in einer Kampagne, die an Gerhard Schröders Abschied von Helmut Kohl erinnert: Nicht alles anders machen, aber vieles besser.

Ob so etwas noch möglich wäre? Zwei Monate vor der Wahl ist das beim Stand heute eher unwahrscheinlich. Zu groß erscheint Merkels Vorsprung; zu schwer könnte es für Schulz werden nach dem mindestens zeitweisen Rückzug seines engsten Vertrauten Markus Engels. Nur eines stimmt sicher nicht: dass es kein Potenzial für ein spannenderes Rennen gegeben hätte.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: