Süddeutsche Zeitung

Kampagne um TTIP:Autopsie des Chlorhuhns

Pickeliges, desinfiziertes Geflügel ist zum Wappentier der Anti-TTIP-Bewegung geworden. Das Chlorhuhn mobilisiert und polarisiert zuverlässig in alle Richtungen. Was ist da passiert?

Von Sabrina Ebitsch

Ein Schlachthof irgendwo in den USA. Große Lastwagen karren täglich Tausende Käfige voller Hühner an. Drinnen werden die Tiere getötet, gerupft, ausgenommen. Der picklige, hellrosa Rest aus Haut und Muskeln fährt an den Beinstümpfen hängend durch weitläufige Hallen. Und wird dann, überwacht von Menschen mit Plastikhaube auf dem Kopf und mit Gummihandschuhen, in eiskaltes, mit Chlordioxid versetztes Wasser getaucht oder mit einer Chlorlösung besprüht.

So werden Chlorhühner gemacht. Aber nicht nur so.

Chlorhühner werden auch an den Konferenztischen der Nichregierungsorganisationen gemacht. Die Idee von dort nimmt später als kleintransportergroßes Brathähnchen vor dem Brandenburger Tor Gestalt an. Zum Chlorhuhn macht es ein Aktivist mit zwei Kanistern, darauf stilisierte Totenköpfe. Mit Gummihandschuhen und Haube übergießt er den Bratballon in einem symbolischen Akt mit (nichtvorhandenem) Chlor. Man habe das schon früh für "Visualisierungen" genutzt. "Ein großes aufblasbares Huhn, ein weißer Papieranzug, ein Kanister und fertig ist das Bild - ein sehr eingängiges, mit dem mittlerweile viele Leute TTIP assoziieren", sagt Maritta Strasser, Leiterin der Anti-TTIP-Kampagne bei Campact. Dass das aufblasbare Hendl schon ein halbes Jahr zuvor bei einer Protestaktion gegen Antibiotika in der Tierhaltung zum Einsatz kam, schadet da nicht.

Das Freihandelsabkommen / ist (auch) ein Freiklonungsabkommen / das Hormonrind jagt das Chlorhuhn / auch das Fracking darf dann kommen / Genkartoffel und Genmais / die Gesundheit zahlt den Preis / Freiklonungsabkommen ... (Das Freihandelsabkommen - Hardy S. Party)

So also ist das Chlorhuhn zum Symbol für den Widerstand gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen geworden. Aber es fällt schwer, in seiner aufgeblasenen Repräsentation nicht auch ein Symbol für die öffentliche Debatte um TTIP zu sehen. Die öffentlichkeitswirksame Dimension hat das Chlorhuhn erst in jüngster Zeit erreicht. Vor einem Jahr war kaum jemandem ein Begriff, was heute in aller Munde ist und doch gerade dort nicht hinkommen soll.

Dabei ist das Chlorhuhn keine Erfindung der TTIP-Gegner. Die Angst existiert schon lang, dass durch Handelserleichterungen das für Europäer so unappetitliche Geflügel über den großen Teich kommen könnte. Schon seit Jahren geistert sie durch bilaterale Verhandlungen zwischen den USA und der EU und brachte Gespräche zum Scheitern. Wegen eines seit 1997 geltenden Hühnchenembargos lag Brüssel immer wieder im Clinch mit der WTO. Aber in die Berichterstattung schafft es das Chlorhuhn als solches kaum.

Auf den Müll mit dem T-Tip, ab in die Tonne / nur mit Nachhaltigkeit da scheint für uns die Sonne / lasst mit fairer Wirtschaft die Erde erblüh'n / und die Freihandelssekte zum Mars weiterziehn ... (Das Freihandelsabkommen - Hardy S. Party)

Das änderte sich im vorigen Jahr: Die Genealogie des Mythos lässt sich gut an seiner Präsenz im Netz und in Archiven nachvollziehen. Erst taucht das Tier nur vereinzelt auf, ab dem Herbst 2013 stetiger. Das Chlorhuhn wird zum Begriff, zunächst zu einem erklärungsbedürftigen, bald zu einem mit Schlagwort-Potenzial. Anfang dieses Jahres ist das Chlorhuhn im kollektiven Wortschatz angekommen und kann instrumentalisiert werden. Im Frühling wird es gezielt zur Mobilisierung eingesetzt, insbesondere im Europa-Wahlkampf, und wirbt selbst in der Provinz für Veranstaltungen ("Freiheit für das Chlorhähnchen").

Das Huhn entfaltet sein Potenzial und ebnet weiteren TTIP-Themen den Weg. "Bei TTIP geht es um weit mehr als Chlorhühnchen ..." oder "Hinter dem Chlorhühnchen versteckt sich ...", heißt es dann. Sinkende Sozialstandards, Investorenschutz, geheime Schiedsgerichte werden verstärkt in die Debatte aufgenommen. Zugleich werden mantraartig Beruhigungsparolen ventiliert. Während die europäische Lebensmittelbehörde EFSA und das Bundesamt für Risikobewertung betonen, das Huhn sei keinesfalls gesundheitsgefährdend, versichert die Politik ungeachtet des sich ergebenden Widerspruchs, es werde keinesfalls zugelassen.

Wer sich nicht wehrt, der lebt eindeutig verkehrt / (schon bald dann...) / und wird am Ende mit lecker Chlorhuhn zwangsernährt ... / (Eiskalt pfeifen sie auf die Demokratie - Hardy S. Party)

Zugleich entdeckt nun auch die Gegenseite das vielseitig einsetzbare Huhn, um die Argumente der TTIP-Gegner zu entwerten. Es wird phänomenologisch seziert und als Mittel zum Zweck des Angstmachens enttarnt. Polemik setzt ein, über "Gutmenschentotalitarismus" und die Bedenkenträger in den "Krallen des Chlorhuhns"; bis schließlich das Chlorhuhn zum "Wappentier" der Anti-TTIP-Kampagne und als "Chlorgockel" für lächerlich erklärt wird.

Das Huhn aber aktiviert, polarisiert, mobilisiert weiter zuverlässig in alle Richtungen. Phasenweise gleicht die Debatte um TTIP einem Tanz um den chlorenen Alb. Warum eigentlich? Wieso hörte das Chlorhuhn auf, das zu sein, was es ist: ein mehr oder minder appetitliches Angebot im Kühlregal, nicht gefährlich, aber wie viele seiner Nachbarn auch nicht das vorbildlichste Glied in der Nahrungskette?

Eine Antwort liegt vermutlich genau dort: Die Menschen im Allgemeinen und die Deutschen im Besonderen reagieren empfindlich, wenn es ums Essen geht. Zumal noch immer 56 Prozent der Bundesbürger glauben, dass die Hühner gefährlich seien. Wer eine Kampagne führen wolle, müsse Emotionen wecken und da eigne sich das Thema Essen so gut wie kein anderes, sagt Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie: "Wir alle essen täglich, viel näher am Menschen geht nicht." Da kann man schon mal emotional werden. "Perfekt zur Mobilisierung", hat die Campact-Strategin Strasser das Huhn deswegen genannt. Es sei aber auch ein gutes Symbol für den "perversen Umgang mit Lebensmitteln": "Es ist so verkeimt, dass es erst genießbar ist, wenn es mit Chemie behandelt wird", sagt Strasser. Es sei den Menschen emotional verständlich, dass da etwas nicht stimme.

Essen dient außerdem der sozialen Distinktion. "Soziologisch funktioniert gerade Ernährung wunderbar als Mittel der Abgrenzung und Gruppenbildung", sagt Michael Kühlen, der am Heidelberger Center for American Studies die Muster wirtschaftspolitischer Beratung in Deutschland und den USA untersucht, - gegenüber den kulturlosen Amis, aber auch gegenüber der Aldi-Fraktion, die womöglich gar kein Problem mit (oder eben keine Alternative zu) dem Geflügel hätte, wie Millionen US-Amerikaner auch nicht.

Freiheit, ihre Freiheit / bringt für viele die Sklaverei / Die von ihrer Freiheit träumen / Soll'n Widerstand nicht versäumen / Lasst uns tanzen auf Verträgen! (Freiheit - Pappnasen-Synthese - Hardy S. Party)

Ein weiterer Faktor: Die Keim-Angst der Amerikaner (die deswegen ihre Hühner chlorbaden und unseren Rohmilchkäse für eine Ausgeburt der kulinarischen Hölle halten) findet hierzulande ihre Entsprechung in einer Abscheu vor allem Künstlichen und Chemischen. Deswegen paart sich das Chlohrhuhn in der TTIP-Debatte auch mit Genfood und Hormonrindern. Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung und des Pew Research Center zufolge vertrauen 94 Prozent der Deutschen europäischen Lebensmittelstandards; nur zwei Prozent amerikanischen. Man hat es gerne natürlich und Chlor, das der Durchschnittsdeutsche mit blaugekachelten Hallenbädern und brennenden Augen verbindet, mag da so gar nicht passen.

Was jenseits des Tellerrands aber auch mitschwingt, sind Globalisierungsängste, Misstrauen gegenüber Großkonzernen und ein mehr oder weniger latenter Antiamerikanismus. In diese Richtung weisen auch Umfragen, wonach die Mehrheit der Deutschen von TTIP mehr Vorteile für die USA als für die EU erwartet. "Das vergleichbare Abkommen Ceta mit Kanada ist schon viel weiter, aber es taugt nicht zur Mobilisierung, weil Kanada als das gentle America gilt", sagt Kühlen.

Die Verträge sind gemacht / und es wurde viel gelacht / noch was Fieses zum Dessert / Freiheit, ihre Freiheit / Barros - O - bama, rum-ta-ta ... / und natürlich Angela / der De Gucht geht vorne weg (Freiheit - Pappnasen-Synthese - Hardy S. Party)

Aber nicht nur das Thema mobilisiert, auch jene, die daran ein Interesse haben. "Diese Organisationen leben davon, Menschen so zu beeinflussen, dass sie sie finanziell unterstützen - so funktioniert der Markt der NGOs", sagt Minhoff. Natürlich funktioniert Lobbyismus umgekehrt nach ganz ähnlichen Prinzipien. Es ist ein öffentlicher Kampf, ein Kampf um die Öffentlichkeit. "Wir sind immer wieder herausgefordert, die Mythen von Wachstum und Jobs, die Märchen von den angeblich so hohen europäischen Standards oder Verhandlungserfolgen zu zerlegen", sagt Strasser.

Strasser und ihre Mitstreiter sind professionell, gut organisiert und geschickt in der Nutzung sozialer Medien. "Viele in der Wirtschaft haben nach dem Kickoff von TTIP in ihrer Euphorie unterschätzt, welche Opposition tatsächlich entstehen könnte", sagt Stormy-Annika Mildner, Leiterin der Abteilung Außenwirtschaftspolitik beim Bundesverband der Deutschen Industrie. "Es ist immer einfacher, mit medienwirksamen Bildern Ängste zu schüren, als mit komplizierten technischen Details die positiven Effekte herauszuarbeiten. Wenn wir über die Normungen von Schrauben sprechen, ist das einfach nicht so plakativ wie das Chlorhuhn."

Das Freihandelsabkommen / ist ein Freibeuterabkommen / Sozialstandards und Umweltschutz / sollen unter'n Hammer kommen / Illegal wird zu legal / durch neoliberales / Freibeuterabkommen (Das Freihandelsabkommen - Hardy S. Party)

Allmählich scheint dem Huhn allerdings die Luft auszugehen. The next big thing in der professionell verwalteten Aufregung, der Investorenschutz, steht zum Stabwechsel bereit. Beim Bündnis "TTIPunfairHandelbar" arbeite man daran, sagt Strasser, das nächste Thema zu pushen, die Dienstleistungsprivatisierung und Ceta seien etwas, wo "Musik drin" sei.

Es gibt Befürchtungen, dass sich das Huhn gegen seine Schöpfer wendet. Weil andere Themen im Hintergrund bleiben. Weil die EU leichthin Kritikern entgegenkommen und die Außengrenzen für das Geflügel dichtmachen kann. Das könnte die Kampagnen der Gegner beschädigen und andere potenzielle Aufreger im Keim ersticken. Manch einer erklärt das Chlohrhuhn schon zum "Retter des TTIP".

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