Süddeutsche Zeitung

Kampagne des Bundesinnenministeriums:Empörung über "Vermisst"-Postkarten in Kölner Keupstraße

Ausgerechnet in der Kölner Keupstraße, dem Ort, wo 2004 ein NSU-Terroranschlag verübt wurde, sind Postkarten der umstrittenen "Vermisst"-Aktion des Bundesinnenministeriums verteilt worden. Muslimische Verbände kritisieren, dass durch die Kampagne Muslime unter Generalverdacht gestellt würden.

Die Keupstraße in Köln im Kölner Stadtteil Mülheim ist ein multikultureller Ort. Ein Ort mit Dönerbuden, Gemüseläden und Kopftüchern. Männer sitzen vor ihren Geschäften, sie rauchen und reden, hie und da ein Verkaufsgespräch. Verschleierte Frauen schieben Kinderwagen durch das Getümmel.

Ausgerechnet dort, wo 2004 ein NSU-Terroranschlag verübt wurde, sind Dutzende Postkarten einer Kampagne gegen die Radikalisierung junger Muslime verteilt worden. Seit dem Wochenende und am Dienstag seien kartonweise Karten der Kampagne "Vermisst" ausgelegt worden, sagte ein Stadtsprecher.

Muslimische Verbände und die Opposition reagierten empört. "Dieser Vorgang ist an Unsensibilität kaum mehr zu überbieten und ist umgehend einzustellen", sagte der Sprecher des Koordinationsrats der Muslime in Deutschland (KRM), Ali Kizilkaya. Gerade auf der Keupstraße seien die Menschen nach dem Nagelbombenanschlag der NSU in höchstem Maße verunsichert.

In den vergangenen Wochen hätten muslimische Verbände wiederholt kritisiert, dass durch die "Vermisst"-Kampagne Muslime unter Generalverdacht gestellt würden. Eine Aktion mit Großplakaten im Zuge der umstrittenen Kampagne war in der vergangenen Woche vorläufig gestoppt worden.

"Hochgradig unsensibel"

Auf Postkarten, im Internet und via Presseanzeigen werde die Kampagne fortgesetzt, sagte eine Ministeriumssprecherin. Die rund 600.000 Postkarten würden über eine Werbeagentur in drei Runden in zehn deutschen Städten ausgelegt.

Die Plakate und Postkarten zeigen Bilder junger Menschen, darunter eine Frau mit Kopftuch, die als "vermisst" bezeichnet werden, weil sie laut einem Begleittext in Gefahr sind, "an religiöse Fanatiker und Terrorgruppen" verloren zu gehen.

Der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Sebastian Edathy (SPD), nannte die Verteilaktion in der Keupstraße "hochgradig unsensibel". Für ihn sei nicht nachvollziehbar, warum die "missglückte Aktion" ausgerechnet in der Keupstraße stattfinde, sagte Edathy dem Kölner Stadt-Anzeiger.

Scharfe Kritik an Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) äußerte auch die Linke. Anstatt die Verstrickung seiner Geheimdienste in den Skandal um die Neonazi-Terrorzelle NSU aufzuklären, schüre er rassistische Vorurteile gegen die in Deutschland lebenden Muslime, sagte Linke-Vorstandsmitglied Christine Buchholz. Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte Friedrich wegen der Fortsetzung der Kampagne: "Er führt die Öffentlichkeit an der Nase herum, wenn er ankündigt, die Plakataktion zu verschieben, aber zugleich eifrig Postkarten mit den Motiven verteilen lässt", sagte er dem Kölner Stadt-Anzeiger. "Dass er das dann auch noch in der Kölner Keupstraße tut, setzt der ganzen Sache die Krone auf."

Noch heute traumatisiert

In der überwiegend von Türkischstämmigen bewohnten Keupstraße in Köln-Mülheim waren im Juni 2004 bei der Explosion einer Nagelbombe 22 Menschen verletzt worden. Der Anschlag wird der Neonazi-Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) zugeschrieben. Nach dem Nagelbombenanschlag waren zunächst Anwohner und andere Muslime der Tat verdächtigt worden. Erst Ende 2011 war die Neonazi-Gruppe ins Visier der Ermittler geraten. Viele der Anschlagsopfer sind noch heute traumatisiert.

Derzeit werden alle paar Tage neue Details über die NSU bekannt. So soll der frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, ein mögliches Ziel der NSU-Terroristen gewesen sein. Das berichtet die Bild-Zeitung am Donnerstag unter Berufung auf bisher unbekannte Ermittlungsakten. Es gebe den Verdacht, dass die Mitglieder des rechtsextremen NSU 1999 eine Bombenattrappe in das Frankfurter Büro von Bubis schickten.

Wie das Blatt weiter berichtet, hatte das Tätertrio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zuvor ein baugleiches Paket an die Polizeidirektion Jena geschickt mit dem Hinweis, "dieses Jahr kommt Bubis dran". Die Terroristen verübten nach bisherigen Erkenntnissen bundesweit zehn Morde. Im November 2011 flog die Gruppe durch Zufall auf. Bubis war von 1992 bis 1999 Vorsitzender des Zentralrats der Juden.

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