Wer ist Kamala Harris? Seit dem Verzicht von Joe Biden auf eine weitere Präsidentschaftskandidatur und der Nominierung seiner bisherigen Stellvertreterin ist das Interesse der Öffentlichkeit enorm. Auf Deutsch gibt es aber bisher nur ihre Denkschrift, die als Autobiografie verkauft wird, mit dem Titel: „Der Wahrheit verpflichtet. Meine Geschichte“. Verfasst hat Harris das Werk bereits 2018, übersetzt wurde es 2021. Und es gibt zwei Biografien auf Deutsch, ebenfalls zu ihrem Amtsantritt als Vizepräsidentin 2021 auf den Markt gekommen. Die SZ hat damals beide Bücher – eines von einer deutschen USA-Korrespondentin und eines von einem US-Reporter – rezensiert und veröffentlicht nun aus gegebenem Anlass beide Besprechungen in gekürzter Form erneut. Vor allem das Ende der Rezension ist beachtenswert.
Die deutsche Journalistin Marie-Astrid Langer, USA-Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung, hat ihr Buch über Harris an einem passenden Ort verfasst. Sie berichtet aus San Francisco und damit weit genug weg vom Washingtoner Gewusel und nahe genug an Harris’ einstigen Wirkungsstätten; schließlich hat diese einen Großteil ihres Lebens und ihrer Karriere in Kalifornien zugebracht.
Marie-Astrid Langers geschickte Einordnung
Langer zeichnet den Aufstieg der Juristin und Politikerin chronologisch nach, von der Bezirksstaatsanwältin von San Francisco zur Justizministerin von Kalifornien (2011) und US-Senatorin der Demokratischen Partei (2017) bis zum jetzigen Amt. Die Journalistin ordnet die Dinge geschickt ein („In gewisser Weise ist Kamala Harris’ Familie so ungewöhnlich, wie es nur für Amerika typisch sein kann“), sie ist lang genug im Land, aber auch noch nicht zu lang, um richtig einschätzen zu können, wie viel Vorwissen bei nicht-amerikanischen Lesern voraussetzbar und welcher Zusammenhang erklärungsbedürftig ist („Ob man aus Berkeley oder Oakland kommt, ist, als ob man aus Berlin-Marzahn oder Zehlendorf stammt“). Langer hat Harris’ Schule und Elternhaus abgeklappert und mit Wegbegleitern wie ihrem einstigen Wahlkampfmanager Brian Brokaw gesprochen. Bei all dem beweist sie ein feines Gespür für die Probleme, denen eine erfolgreiche, lange unverheiratete, kinderlose, dunkelhäutige „Karrierefrau“ auch im 21. Jahrhundert noch begegnen muss.

Harris’ politisches Manifests und das Buch von Don Morain sind hier Grundlage, neben etlichen Zeitungsartikeln, Podcasts, TV-Interviews, Universitätswebsites und auch Posts in sozialen Medien. Langer macht daraus und aus ihrem eigenen Wissens- und Beobachtungsschatz eine lesenswerte Darstellung, die so gescheit analysiert, wie kurzweilig geschrieben ist.
Wenige Tage nach ihrer Amtseinführung hatte der Heyne-Verlag die deutsche Übersetzung ihrer Biografie veröffentlicht („Kamala’s Way – An American Life“). Autor Dan Morain war 27 Jahre als Redakteur bei der Los Angeles Times und acht Jahre bei der Sacramento Bee tätig und hat oft über Harris berichtet. Harris’ Lebensweg beschreibt er ebenfalls recht chronologisch. Die Mutter, eine Brustkrebsforscherin, eingewandert aus Indien, der Vater, ein Wirtschaftswissenschaftler, aus Jamaika. Sie engagierten sich in der Bürgerrechtsbewegung der 60er, nahmen die kleine Kamala im Kinderwagen mit zu Demonstrationen im rebellischen Kalifornien. Als sie sieben war, ließen sich die Eltern scheiden; das Verhältnis zum Vater war fortan distanziert, das zur drei Jahre jüngeren Schwester Maja umso inniger, und prägend für sie blieb ihre Mutter Shyamala Gopalan, die 2009 an Darmkrebs starb.
Don Morains Belanglosigkeiten
Im Fokus steht freilich der politische Werdegang. Nach dem Jurastudium startete Harris ihre Karriere als Bezirksstaatsanwältin von San Francisco, wurde 2011 Generalstaatsanwältin und damit Justizministerin von Kalifornien und 2017 US-Senatorin der Demokratischen Partei, setzte sich ein gegen soziale Diskriminierung und für grundlegende Reformen der Strafjustiz.
Als Morain die Biografie im Herbst 2020 verfasste, war Harris auf den Präsidentschaftswahlkampf fokussiert. Sie und ihre Familie gewährten ihm weder ein Interview, noch trugen sie zu seinen Recherchen bei, schreibt er offen im Epilog. Morain liefert keine Enthüllungen, und so kennen interessierte Beobachter die meisten Anekdoten bereits aus den Medien. Er stützt sich auf andere Quellen, zitiert aus ihrer Autobiografie („The Truths We Hold: An American Journey“), aus Zeitungen oder Wahlspots und lässt Weggefährten zu Wort kommen. Deren Auskünfte geraten jedoch bisweilen erstaunlich belanglos, etwa: „Sie verstand die Probleme. Verstand sie mal etwas nicht, stellte sie Fragen. Man konnte mit ihr reden.“ Ebenso manche von Morains Beobachtungen: „Sie hob die Adressen in einem Filofax-Planer auf, der 2002 im Wesentlichen einem Notizbuch glich. Erst im Laufe der folgenden Zeit wurde dieses Ringbuch durch ein digitales Notepad ersetzt.“ An anderer Stelle erzählt er, wie sich Harris und Donald Trump 1994 einmal fast begegnet wären, aber eben nur fast.

Morain wirkt mit seinen Skizzen ein wenig wie ein Beobachter aus der Ferne. Harris bleibt seltsam blutleer, man scheint sie nach den knapp 400 Seiten Lektüre nicht besser zu kennen. Nur selten bietet er eine Einschätzung: Sie könne, so Morain, genauso knallhart wie charmant sein, könne Menschen, die ihr seit Langem nahestehen, befremden, und wiederum Menschen, die ihr eigentlich nicht förderlich sind, große Empathie entgegenbringen. Harris wusste immer ihr Privatleben bestmöglich abzuschotten, das macht es einem Biografen nicht leicht. Sie ist kein weiblicher Barack Obama, ein anderer „Erster“ mit irgendwie ähnlicher Biografie, der es versteht, wohl gewählte und dosierte Details aus seinem Familienleben preiszugeben.
Seminar für Hobbyjuristen und Staatsrechtler
Als Journalist war Morain auf Rechtsthemen fokussiert, das prädestinierte ihn als Beobachter der ranghohen Juristin Harris in seinem Heimatstaat Kalifornien. Sein Faible gerät ihm hier jedoch zur Krux: Über weite Passagen beschreibt er Gesetzgebungsverfahren, verliert sich in juristischen Details oder führt ausführlich Politiker, Staatsanwälte, Kollegen ein, deren Relevanz sich nicht wirklich erschließt. Irritierenderweise tritt Harris dabei immer wieder an den Rand und taucht erst gegen Ende eines Kapitels wieder auf. Auch die Anhörungen vor Senatsausschüssen, in denen Harris eine dominante Stimme ist, lesen sich wie zu lang geratene Protokolle. Staatsrechtler und Hobbyjuristen mag das begeistern, auf eine breitere Leserschaft, erst recht in Europa, wirkt es ermüdend. Vielleicht hätte man die deutsche Fassung auf biografisch wesentliche Abschnitte beschränken sollen.

„In vielen Dingen bist du vielleicht die Erste, aber sorge dafür, dass du nie die Letzte bist“, gab ihr ihre Mutter auf den Weg. Harris zitiert diesen Satz oft, etwa bei ihrer Siegesrede am 7. November 2020: „Es mag sein, dass ich die erste Frau in diesem Amt bin, aber ich werde nicht die letzte sein, denn jedes kleine Mädchen, das heute Abend zusieht, sieht, dass in diesem Land alles möglich ist.“ Sie gilt schon jetzt als Anwärterin für das Präsidentenamt, da der 78-jährige Joe Biden, der älteste Präsident in der US-Geschichte, in vier Jahren vermutlich nicht noch einmal antreten wird. Gewinnt sie, wäre sie ein weiteres Mal die „Erste“.
(Die Rezension zu Don Morain erschien zuerst am 1.2.2021, die zu Langer am 25.10.2021)