Parlamentswahl in Estland:Kaja Kallas triumphiert

Parlamentswahl in Estland: Wählen am Laptop: Estland ist Vorreiter bei der Digitalisierung, auch Ministerpräsidentin Kaja Kallas gab ihre Stimme digital ab

Wählen am Laptop: Estland ist Vorreiter bei der Digitalisierung, auch Ministerpräsidentin Kaja Kallas gab ihre Stimme digital ab

(Foto: Pavel Golovkin/dpa)

Die Reformpartei der estnischen Ministerpräsidentin führt bei der Auszählung deutlich. Die Wähler belohnen ihre lautstarke Unterstützung der Ukraine. Denkbar ist nun eine neue Regierungskoalition

Von Viktoria Großmann, Warschau

Für Kaja Kallas ist es auch ein persönlicher Sieg: Die estnische Ministerpräsidentin erhielt bei der Parlamentswahl am Sonntag so viele Direktstimmen wie noch nie ein Abgeordneter vor ihr. Vom Wahlerfolg ihrer liberalen Reformpartei zeigte sich Kallas überrascht, die Prognosen hatten ein engeres Rennen mit der rechtsextremen Partei Ekre vorhergesehen. Nun führt die Reformpartei mit mehr als 31 Prozent der Stimmen deutlich.

Kallas, die seit gut zwei Jahren im Amt ist, regierte bislang mit den Sozialdemokraten, die ein paar Stimmen einbüßten, und der christlich-konservativen Isamaa-Partei (Vaterland), die deutlich verlor. Möglich, dass Kallas sich neue Partner sucht.

Kallas wählten vor allem gebildete, gutverdienenende Städterinnen

Etwa die noch junge Partei Estland 200, die als zweiter Sieger dieser Wahl zum Riigikogu, dem estnischen Parlament, gelten kann. Vor vier Jahren scheiterten die Liberalen noch an der Fünfprozenthürde, nun erhielten sie mehr als 13 Prozent der Stimmen. Die Partei steht für freie Marktwirtschaft, lehnt neue Schulden und Steuererhöhungen ab und setzt sich zugleich für eine "grüne Revolution" ein, will in Offshore-Windparks und Sonnenenergie investieren und außerdem ganz Estland mit einem Raketenschutzschild abdecken. Estland 200 könnte ein idealer neuer Partner für Kallas' neue Regierung sein. Kallas' Büroleiter sprach am Wahlabend bereits von einer "liberalen Wende".

Die 45-jährige Kallas kann sich bestätigt sehen in ihrem Kurs pro EU und Nato und in ihrer unbedingten Unterstützung für die Ukraine. "Sie hat als Person gut funktioniert", sagt etwa Oliver Morwinsky von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Das Wahlergebnis sei auch ein "klares Votum für die Ukrainepolitik von Kallas". Auch, wenn diese Politik teuer ist. "Man ist hier in den baltischen Ländern bereit, einen Preis dafür zu zahlen und Entbehrungen in Kauf zu nehmen", sagt Morwinsky. Laut der estnischen Nichtregierungsorganisation Institut für Sozialforschung ziehen sowohl die Kallas-Partei wie auch Estland 200 und die Sozialdemokraten vor allem ein gebildetes, städtisches, gutverdienendes und weibliches Publikum an.

Sowohl Kallas wie auch die Partei Estland 200 wollen jährlich drei Prozent des Bruttoinlandproduktes in die Verteidigung investieren. Besonders die rechtsextreme Partei Ekre hatte soziale Not und die extreme Teuerung zum Wahlkampfthema gemacht, die Inflationsrate liegt derzeit bei mehr als 18 Prozent. Doch bei den Wählern schien das nicht zu verfangen. Ekre, traditionell stark auf dem Land, bei Rentnern und vor allem bei Männern, wurde zwar mit 16,1 Prozent zweitstärkste Kraft, blieb aber deutlich unter den Erwartungen und verlor auch im Vergleich zu 2019.

Stimmen verloren haben die Rechtsextremen und die Lieblingspartei der Russischsprachigen

Nun will die Partei die Wahl anfechten, kritisiert ausgerechnet das vielbewunderte Online-Wahlsystem, das Estland schon 2005 einführte. Bei dieser Wahl gaben erstmals mehr Menschen ihre Stimme digital ab, als traditionell im Wahllokal. Auch Kallas ließ sich nicht bei Zettelabgabe fotografieren, sondern schlicht an ihrem Notebook.

Schon vor vier Jahren war Kallas' Reformpartei stärkste Kraft geworden, hatte aber zunächst keine Regierung bilden können. Stattdessen vereinbarte die damals zweitplatzierte Zentrumspartei eine Koalition mit Ekre - und scheiterte nach nicht einmal zwei Jahren. Kallas bildete daraufhin im Januar 2021 ein neues Kabinett.

Die im Mitte-links-Spektrum zu verortende Zentrumspartei büßte nun am meisten Stimmen ein. Sie fand ihre Unterstützer traditionell besonders im russischsprachigen Teil der Bevölkerung. Fast ein Viertel der 1,3 Millionen Esten sind russische Muttersprachler. Einige der russischsprachigen Zentrumswähler wanderten laut Institut für Sozialforschung zur Reformpartei von Kaja Kallas ab. Viele aber blieben wohl schlicht zu Hause, obwohl die Wahlbeteiligung insgesamt mit mehr als 63 Prozent etwas höher war als vor vier Jahren.

Estnisch soll als Unterrichtssprache Pflicht werden

Der russische Angriff auf die Ukraine rückte den Umgang mit der eigenen russischsprachigen Bevölkerung auf die politische Tagesordnung. Dass die Partei Estland 200 es sich zum Ziel setzt, dass eine Million Menschen in Estland Estnisch können sollen, lässt das Ausmaß des Problems erahnen: So klein das Land ist, eine gemeinsame Sprache findet die Gesellschaft offenbar nicht.

Nach dem Willen von Kallas und anderen Parteien soll sich das ändern: Von 2024 an soll nach und nach in allen Schulen und auch schon in den Kindergärten Estnisch als Unterrichtssprache durchgesetzt werden.

Präsident Alar Karis rief am Montag zu raschen Koalitionsverhandlungen auf: "Die gegenwärtige Situation ist nicht günstig für eine lange Zeit der Ungewissheit."

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