Ausbruch des Ersten Weltkriegs:Wie Deutschland 1914 den Krieg plante

Wilhelm II., Alfred von Tirpitz und Helmuth von Moltke, 1912 Erster Weltkrieg

Drei Männer, die einen großen Krieg wollten: Kaiser Wilhelm II. (links) im Gespräch mit dem Staatssekretär des Reichsmarineamts, Großadmiral Alfred von Tirpitz (Mitte), und Generalstabschef Helmuth von Moltke 1912.

(Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Kaiser Wilhelm II. und sein Umfeld ersehnten sich einen Krieg gegen Frankreich und Russland. Im Sommer 1914 taten diese Männer alles, um den Frieden zu sabotieren. Die These von der "Unschuld" Berlins kann nur vertreten werden, wenn man die Ergebnisse penibler Archivforschung ignoriert.

Gastbeitrag von John C. G. Röhl

Der Historiker John C. G. Röhl, Jahrgang 1938, lehrte bis zur Emeritierung an der Universität Sussex. Der Brite ist ein führender Experte für Kaiser Wilhelm II. und das Wilhelminische Zeitalter. Seit mehr als fünf Jahrzehnten beschäftigt sich Röhl mit dem Hohenzollern und seiner Epoche. Seine dreibändige Biografie zu Wilhelm II. (Verlag C.H. Beck) ist ein Standardwerk.

In dem folgenden Gastbeitrag für die SZ (Übersetzung aus dem Englischen: Oliver Das Gupta) widmet sich Röhl der kontrovers diskutierten Frage, warum London 1914 gegen das Kaiserreich in den Krieg gezogen ist - und inwiefern Berlin am Ausbruch des Ersten Weltkrieges beteiligt war. Dafür dokumentiert Röhl anhand von Fakten, wie die Reichsregierung um den Kaiser einen großen Waffengang plante, von einem Kontinentaleuropa (und weite Teile Afrikas) beherrschenden Großdeutschland träumte und wie Wilhelm II. mit seinen Helfern jubelte, als im Sommer vor 100 Jahren der Krieg begann.

Als deutsche Truppen am 3. August 1914 in das neutrale Belgien einfielen, um gemäß dem Schlieffenplan Frankreich zu erobern, ehe man gegen Russland loszog, stand die Regierung Großbritanniens vor der Frage, ob es abseits bleiben oder in den Kontinentalkrieg eingreifen sollte. Die Entscheidung Londons, dem Ententepartner Frankreich mit einem Expeditionskorps von 100.000 Mann beizustehen, sollte schließlich das Leben von mehr als einer Million jungen Männern kosten - etwa drei Mal so viel wie im ganzen Zweiten Weltkrieg.

Einhundert Jahre nach Beginn des Großen Krieges ist die Kontroverse über Sinn und Unsinn des Kriegseintritts am 4. August 1914 und der ungeheuren Opfer, die der Kampf gefordert hat, in der britischen Öffentlichkeit von Neuem aufgeflackert. Für die Gedenkfeier der Katastrophe hat die Regierung Cameron 50 Millionen Pfund bereitgestellt, ein Expertengremium einberufen und angeregt, "Stolpersteine" zu Ehren der Gefallenen in die Bürgersteige ihrer Heimatstädte und -dörfer einzusetzen, wie es in vielen deutschen Städten zum Gedächtnis der Opfer des Holocausts geschehen ist.

Doch die Diskussion darüber, wie das Zentenarium des Großen Krieges begangen werden sollte, verläuft auf der Insel zunächst noch etwas orientierungslos, und nicht zuletzt deshalb, weil die Fachhistoriker unter sich zerstritten sind.

Vor kurzem hat Niall Ferguson erneut für Widerspruch gesorgt, als er seine alte Behauptung wiederholte, der Erste Weltkrieg sei für England doch 'der falsche Krieg' gewesen, ein Sieg des kaiserlichen Deutschlands hätte uns damals schon so etwas wie die Europäische Union gebracht, die unzähligen Opfer von 1914 bis 1918 - so kann man daraus folgern - seien umsonst erbracht worden.

Auf der Insel ist die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ohnehin eher durch die Antikriegsliteratur von Dichtern wie Siegfried Sassoon, Wilfred Owen und Robert von Ranke-Graves (Goodbye to all that) mit ihren eindringlichen Schilderungen der Schlammschlachten in Flandern als durch die historische Forschung geprägt worden. Sebastian Faulks, Verfasser des Erfolgsromans Birdsong über die Schlacht an der Somme, spricht von dem millionenfachen Tod in den Schützengräben an der Westfront als von einem ersten Holocaust.

Der verständliche Horror über die unvorstellbaren Verluste und Leiden überschatten oft die Kenntnisse der geschichtlichen Grundtatsachen. Nach einer vom British Council in Auftrag gegebenen Umfrage herrscht unter den Insulanern zum Beispiel Verwirrung darüber, auf welcher Seite das russische Zarenreich beziehungsweise die Türkei gekämpft haben.

Nur einer Minderheit war bekannt, dass Kanada, Australien, Neuseeland, Indien und schließlich die USA auch noch am Krieg gegen die Mittelmächte beteiligt waren, oder dass der Krieg auch in Masuren und Galizien, auf dem Balkan, in den Dolomiten oder in Afrika tobte. Einer von der BBC durchgeführten Meinungsumfrage zufolge halten gegenwärtig 55 Prozent der Briten den Kriegseintritt 1914 für gerechtfertigt, 38 Prozent erklärten ihn für eine Fehlentscheidung.

Sturmangriff am Isonzo, 1916

Sturmangriff österreichisch-ungarischer Truppen auf eine italienische Stellung bei einer Isonzo-Schlacht im Jahre 1916

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Die gegenwärtige britische Regierung sieht sich genötigt, aufklärend in den Streit einzuwirken. Bildungsminister Michael Gove sorgte kürzlich für Aufregung, als er linksgerichteten Intellektuellen vorwarf, ein allzu negatives Bild des Krieges verbreitet zu haben und einigen Schullehrern unterstellte, satirische Fernsehprogramme wie Blackadder (mit Rowan Atkinson diesmal nicht als Mr. Bean sondern in der Rolle eines närrischen hochnäsigen Frontoffiziers) oder das antikapitalistische Musical Oh what a lovely war! der 1960er Jahre für den Geschichtsunterricht zu verwenden.

Die Regierung muss allerdings vorsichtig operieren, will sie vermeiden, alte Ressentiments gegen 'die Deutschen' von Neuem aufkommen zu lassen. Besser, man distanziert sich vom eigentlichen Kriegsgrund von damals und spricht, wie Premierminister David Cameron es in einem Zeitungsinterview neulich getan hat, von der drohenden Vorherrschaft 'Preußens' in Europa, die es aus Sicht der "Generation von 1914" galt, abzuwehren. Unter dem Eindruck mehrteiliger TV-Sendungen wie etwa Britain's Great War (BBC1) oder The Necessary War (mit Sir Max Hastings) wächst das Verständnis für den britischen Kriegseintritt als notwendiges Übel allerdings wieder an.

Alle hatten gleich viel Schuld, glauben viele Deutsche heute

In Deutschland scheint sich die öffentliche Meinung in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Im Windschatten von Bestsellern wie Christopher Clarks Die Schlafwandler oder Herfried Münklers Der Große Krieg, die in den Medien ein enormes Echo gefunden haben, sollen jetzt nur noch 19 Prozent aller Deutschen die "Hauptverantwortung" für den Krieg bei der Reichsregierung sehen, während ganze 58 Prozent der Befragten alle kriegsführenden Mächte gleichmäßig für schuldig halten.

Das ist eine neue und nicht unbedenkliche Entwicklung, denn seit den bahnbrechenden Arbeiten von Fritz Fischer und Imanuel Geiss, die mit unwiderlegbaren Dokumenten aus den Archiven das Ausmaß der Kriegsziele des kaiserlichen Deutschland offenlegten, herrscht in der internationalen Forschung Übereinstimmung über die führende Rolle, die die Berliner Regierung bei der Verursachung des Weltkrieges gespielt hat.

Zum Glück wird niemand auf den Gedanken kommen, dass das heutige demokratische, ja fast pazifistische Deutschland, das in Frieden mit allen seinen Nachbarn lebt und eine verantwortungsbewusste Rolle in der internationalen Staatenordnung übernommen hat, mit wilhelminischen Alleingängen in der Weltpolitik liebäugelt.

Etwas mulmig wird es einem trotzdem bei der Vorstellung, dass in vielen Köpfen in Deutschland jetzt wohl der Eindruck im Entstehen begriffen ist, als wären die Forschungsergebnisse von Fischer, Geiss und zahlreichen anderen Historikern nichts weiter als Ausdruck eines "blame games" (Clark) gewesen, mit der die Alliierten Deutschland durch eine unfaire Schuldzuweisung auch noch für den Ersten Weltkrieg niederzuhalten getrachtet hätten.

Die Bismarck'sche Zurückhaltung ging über Bord

Die These von der "Unschuld" der Reichsregierung an der Auslösung des Weltkrieges im Juli 1914 kann nur vertreten werden, wenn man die Ergebnisse der peniblen Archivforschung der letzten fünfzig Jahre bagatellisiert oder ganz außer Acht lässt. Bei allen Unterschieden in der Gewichtung war die Forschung übereinstimmend zu der Meinung gelangt, dass die längerfristigen Ursachen der beiden Weltkriege im erstaunlichen Erfolg des von Bismarck geeinten Deutschen Reiches zu sehen seien.

Nach den drei Kriegen von 1864 (hier mehr dazu), 1866 und 1870-71 habe das preußisch-deutsche Kaiserreich im Herzen Europas eine Dynamik entwickelt, so der Konsens, die mit der Zeit fast zwangsläufig zu einer Herausforderung des europäischen Staatensystems werden musste. Solange Bismarck das Ruder in der Hand hielt, war diese Bedrohung nur latent vorhanden.

Mit einem unberechenbaren jungen Kaiser an der Spitze aber, der in Vorstellungen des Gottesgnadentums und des friderizianischen Mythos der stets fortschreitenden Expansion der preußischen Militärmonarchie vernarrt war, wurde die Bismarck'sche Zurückhaltung über Bord geworfen.

Wilhelm II. und Otto von Bismarck, 1888

Nicht auf einer Wellenlänge: Wilhelm II. (li) und der alte Reichskanzler Otto von Bismarck im Park von Schloss Friedrichruh im Jahre 1888, dem Jahr, in welchem der selbstherrliche junge Kaiser den Thron bestieg.

(Foto: Scherl / SZ Photo)

Das wirtschaftlich, demografisch und kulturell beispiellos erfolgreiche Reich preschte nach vorne, und das Streben nach dem Status einer "Weltmacht" auf Augenhöhe mit den aufsteigenden Vereinigten Staaten von Amerika im Westen und der von Wilhelm II. als "Gelbe Gefahr" verunglimpften Mächte im Osten brachte das Kaiserreich unweigerlich in den Konflikt mit dem "europäischen Konzert" - dem Staatensystem des Wiener Kongresses, welches letztendlich durch die Gleichgewichtspolitik Großbritanniens aufrechterhalten wurde.

Freilich war Krieg nicht die einzige Option, die in der Berliner Reichsführung um die Jahrhundertwende erwogen wurde, um den Durchbruch zur Hegemonie auf dem Kontinent zu erreichen. Das gegen England gerichtete Tirpitz'sche Schlachtflottenprogramm und eine erpresserische Diplomatie der starken Hand, speziell gegen Frankreich in den beiden Marokkokrisen von 1905 und 1911, wurden ebenfalls unternommen.

1912 entschied sich Berlin für einen Krieg, der 1914 Realität wurde

Aber seit dem Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges im Februar 1904 zogen Kaiser Wilhelm und seine Generäle, Admiräle und Staatsmänner aktiv einen Blitzschlag gegen die französische Republik - und nötigenfalls einen Seekrieg gegen Großbritannien - in Betracht, freilich in der Annahme, dass das zaristische Russland neutral bleiben würde. Weder 1905 noch 1911 wurden die Umstände für einen Angriff auf Frankreich für günstig gehalten. Man trat im letzten Moment vom Abgrund zurück.

Japanische Soldaten im russisch-japanischen Krieg, 1904/1905

Japanische Soldaten in einer Stellung in der Mandschurei während des Russisch-Japanischen Krieges 1904/1905.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Mit dem Ausbruch der Balkankriege im Herbst 1912 änderte sich die deutsche Kriegsplanung grundlegend. Aufgeschreckt durch die Aussichtslosigkeit eines Seekrieges gegen die Supermacht England setzte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in Verbindung mit der Armee und gegen Admiral von Tirpitz eine Umorientierung der deutschen Strategie durch: statt wie bisher einen Krieg gegen Frankreich und erforderlichenfalls auch gegen Großbritannien in der Annahme der russischen Neutralität ins Auge zu fassen, bereitete man sich nun auf einen Krieg gegen Frankreich und Russland in der Hoffnung auf die englische Neutralität vor. "Um gegen Moskau marschieren zu können, muss erst Paris genommen werden", erklärte der Kaiser im November 1912.

Bereits zu diesem Zeitpunkt - November 1912 - entschied sich die deutsche Regierungselite tatsächlich für den Krieg gegen Frankreich und Russland, wenn sich (wie zu erwarten war) ein geplanter Angriff Österreichs auf Serbien als für Russland unannehmbar erweisen sollte. Von dieser Entscheidung trat man nur deshalb wieder zurück - das war die eigentliche Bedeutung des berühmten "Kriegsrats" im Berliner Schloss vom 8. Dezember 1912 -, weil Fürst Lichnowsky, der deutsche Botschafter, aus London meldete, England werde doch nicht neutral bleiben; Großbritannien könne es niemals zulassen, Frankreich zerschmettert zu sehen, um sich dann einem von Deutschland beherrschten Kontinent gegenüber zu finden.

"...wenn nötig, den Krieg zu beginnen"

In den 18 Monaten zwischen dem "Kriegsrat" vom 8. Dezember 1912 und der Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajevo am 28. Juni 1914 fanden zwischen Berlin und Wien mehrfach Gespräche auf höchster Ebene darüber statt, wie und wann man einen Krieg - ausdrücklich immer auch einen solchen gegen Frankreich und Russland - beginnen könne.

Nach einem Treffen zwischen dem Chef des deutschen Generalstabes, Helmuth von Moltke, und seinem österreichischen Amtskollegen Franz Conrad von Hötzendorf in Karlsbad im Mai 1914 berichtete der deutsche Generalquartiermeister Graf Georg von Waldersee, die beiden Heerführer seien sich darüber einig gewesen, "dass zurzeit noch die Dinge für uns günstig lägen, man solle also nicht zögern, im gegebenen Falle energisch aufzutreten und, wenn nötig, den Krieg zu beginnen".

Allerdings würden die zivilen Staatsmänner und nicht zuletzt beide Monarchen für "energische Maßnahmen" noch gewonnen werden müssen, fügte Waldersee hinzu. Ende Mai 1914 drängte Moltke den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow, "unsere Politik auf die baldige Herbeiführung eines Krieges einzustellen".

Kurz vor seinem Tod im Jahre 1916 brüstete sich Moltke in einem eigenhändigen Brief an seinen Kollegen Feldmarschall Colmar von der Goltz damit, den Weltkrieg selber "vorbereitet und eingeleitet" zu haben. Derartige Belege für den Kriegswillen der deutschen Militärs noch vor Sarajevo ließen sich beliebig fortsetzen. Jagow seinerseits wurde von Schuldgefühlen verfolgt. Einer Freundin gestand er, nicht mehr schlafen zu können, da Deutschland in der Tat "den Krieg gewollt" habe.

"Jetzt oder nie" müsse mit den Serben "aufgeräumt" werden

Der vom Kaiser am 3./4. Juli 1914 flüchtig hingekritzelte Randvermerk, mit den Serben müsse "aufgeräumt" werden, und zwar "jetzt oder nie", wirkte als Signal für die Umsetzung des von Moltke revidierten Schlieffenplans. Am folgenden Tag stellte Wilhelm II. den Österreichern einen Blankoscheck für den Fall aus, dass ihr Angriff auf Serbien in einen Kontinentalkrieg münden würde, was in der Berliner Wilhelmstraße als zu 90 Prozent wahrscheinlich eingeschätzt wurde.

Im Neuen Palais empfing der Kaiser den Reichskanzler sowie die Spitzen von Heer und Marine, fragte sie nacheinander, ob tatsächlich alles kriegsbereit sei, und ordnete die geheime Mobilmachung der Flotte an.

Theobald von Bethmann Hollweg mit Gottlieb von Jagow und Karl Helfferich

Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (li.) im Gespräch mit dem Staatssekretär des Auswärtigen Gottlieb von Jagow (Mitte) und dem Staatssekretär im Reichsschatzamt Karl Helfferich (re.)

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

In Berlin waren nicht viel mehr als zwanzig Männer an dem Komplott beteiligt, das zur Katastrophe des Weltkriegs führen sollte. Zwar gab es unter ihnen bis zuletzt Differenzen, doch sie waren sich alle einig in der Überzeugung, die Zukunft gehöre Deutschland und müsse "mit dem Schwert" erkämpft werden.

Die Stellung des Reiches "als europäische Kontinentalmacht zweiter Ordnung" schien ihnen nicht mehr hinnehmbar. Wie Tirpitz es im Oktober 1913 vor seinen Offizieren im Reichsmarineamt formulierte: "Schließlich scheine es einer großen Nation würdiger, um das höchste Ziel [der Weltstellung] zu kämpfen und vielleicht ehrenvoll unterzugehen, als ruhmlos auf die Zukunft zu verzichten."

Der Einzige, der am Rande stehend ahnte, was seine eigene Regierung im Schilde führte, war Fürst Karl Max von Lichnowsky, der Botschafter in London. Seine Bemühungen, das Desaster abzuwenden, wurden von seinen Vorgesetzten torpediert. Später nannte er sie "diese Hunde" und bezichtigte mit "brennendem Hass" vor allem Bethmann Hollweg der vorsätzlichen Kriegsauslösung.

Kerngedanke des Komplotts: Russland ins Unrecht setzen

Der Kerngedanke des plumpen von Bethmann und Moltke ausgeheckten Komplotts war, wie der Chef des kaiserlichen Marinekabinetts Admiral von Müller in seinem Tagebuch festhielt, "Russland sich ins Unrecht setzen lassen, dann aber Krieg nicht scheuen".

Ihr Kalkül lautete: Wenn Berlin den Anschein erwecken könnte, als wäre Russland der Angreifer in einem auf dem Balkan entstehenden Krieg, würden vier Ziele erreicht werden können:

  • Österreich-Ungarn wäre von Anfang an in der Pflicht, an der Seite des Deutschen Reiches zu kämpfen;
  • das deutsche Volk - nahezu die Hälfte wählte mittlerweile sozialdemokratisch - wäre bereit, zu den Waffen zu greifen in einem vermeintlichen Verteidigungskrieg gegen das tyrannische russische Zarenreich;
  • Deutschlands andere Verbündete Italien und Rumänien wären vertraglich verpflichtet, in den Krieg einzutreten; und - das allerwichtigste Ziel -
  • Großbritannien würde seine beiden Entente-Partner Frankreich und Russland fallenlassen und neutral bleiben - zumindest anfangs, bis es zu spät war, die Niederlage Frankreichs zu verhindern, die binnen vier bis fünf Wochen nach Kriegsbeginn erwartet wurde.

Um die Großmächte in den Glauben einzulullen, dass das Attentat von Sarajevo keine weiteren Auswirkungen zeitigen würde und somit Vermittlungsvorschläge vorerst zu vermeiden, fuhren die deutschen Regierungs-, Armee- und Marinepersönlichkeiten in den Urlaub, Staatssekretär von Jagow sogar auf Hochzeitsreise.

Später beteuerten sie, keine vorherige Kenntnis vom österreichischen Ultimatum an Serbien gehabt zu haben - was nachweisbar eine glatte Lüge war. Der Kaiser wurde auf seine alljährliche Nordlandreise geschickt, um Normalität vorzutäuschen, doch diesmal segelte die Hohenzollern nicht wie sonst bis zum Nordkap hinauf sondern ging bezeichnenderweise bereits im Sognefjord unweit von Bergen vor Anker.

Von dort aus könne der Oberste Kriegsherr in zwei Tagen wieder in Kiel sein, hieß es, um, falls notwendig, den Mobilmachungsbefehl zu unterzeichnen. Als der kritische Augenblick näher rückte, regte Jagow sogar an, die Hohenzollern könne doch in der Ostsee herumkreisen - so sei der Kaiser noch schneller in der Heimat.

Bei der Mobilmachung war der Kaiser zu Tränen gerührt

Das österreichische Ultimatum an Serbien war bewusst als unannehmbar gestaltet worden. Die Regierungen von Russland, Frankreich, Großbritannien und Italien fühlten sich gänzlich überrumpelt und reagierten allesamt ungläubig und wütend auf die Behauptung Berlins, keine Ahnung von den Absichten Wiens gehabt zu haben. Der Dreibundpartner Italien erklärte sich keineswegs verpflichtet, mit in den Kampf zu ziehen, da der drohende Konflikt ja doch kein Verteidigungskrieg sei.

Am 25. Juli 1914 kehrten Bethmann Hollweg, Generalstabschef von Moltke, Kriegsminister von Falkenhayn und Großadmiral von Tirpitz wie gerufen auf ihre Posten nach Berlin zurück, um die Endphase der Krise in die Hand zu nehmen. Auch Kaiser Wilhelm II. ließ an diesem Tag die Segel setzen, um vom Sognefjord aus nach Hause zu fahren.

Das war aus der Sicht Bethmann Hollwegs verfrüht. Seine Befürchtung, die Rückkehr des Monarchen könnte in London als Warnsignal gewertet werden, erwies sich durchaus als berechtigt - auf Anordnung Winston Churchills, des Ersten Lords der Admiralität, fuhr die Royal Navy bei Nacht und ohne Lichter vom Ärmelkanal aus nach Nordschottland.

Der Kaiser gerät kurz in Panik

Noch vor der Abfahrt aus Norwegen gab der Kaiser seinem Flottenchef von Ingenohl den Befehl, die russischen Marinestützpunkte in Estland und Lettland zu beschießen sowie die östliche Ostsee abzusperren - Befehle, die fürs Erste stillschweigend ignoriert wurden.

Nach Potsdam zurückgekehrt geriet der Kaiser am 28. Juli 1914 vorübergehend in Panik. Wieder war es Lichnowsky, der in einer Depesche aus London warnte, dass die Briten die serbische Antwort auf das Ultimatum Wiens für durchaus annehmbar hielten und nicht neutral bleiben würden, falls Deutschland in Frankreich einmarschiere.

König Georg V. bei einer Parade der Pfadfinder in Aldershot, 1910

Der britische König (hoch zu Ross) mit Pfadfindern im Jahre 1910.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Aber diese Befürchtungen wurden auf Grund einer fatalen Mitteilung des Prinzen Heinrich von Preußen in den Wind geschlagen. Wie schon Anfang Dezember 1912 hatte Wilhelm II. auch jetzt wieder seinen Bruder nach London entsandt, um herauszuhören, wie die britische Haltung im Falle eines Krieges auf dem Kontinent ausfallen würde.

Nun teilte Heinrich seinem Bruder mit, ihr Vetter König George V. habe ihm während eines kurzen Treffens im Buckingham Palace am frühen Vormittag des 26. Juli wörtlich versichert: "We shall try & keep out of it, we shall probably remain neutral." Plötzlich war der Kaiser wieder auf Linie und erklärte in seinem Monarchenwahn: "Ich habe das Wort eines Königs, das genügt mir."

Der Kanzler offenbart deutsche Expansionsträume

Nach Absprache mit dem Kaiser und den Generälen in Potsdam machte Reichskanzler von Bethmann Hollweg am 29. Juli dem britischen Botschafter Sir Edward Goschen Vorschläge, die seine Absicht verriet, in Frankreich einzufallen und Belgien zu besetzen:

Vorausgesetzt, dass Großbritannien neutral bleibe (aber nur in diesem Fall), verspreche Deutschland, Frankreichs territoriale Integrität (aber nicht seine Souveränität) in Europa (aber nicht in Übersee) nach Kriegsende wiederherzustellen. Solange Belgien nicht gegen Deutschland Partei nehme, werde Deutschland auch die belgische Integrität (nicht Souveränität) nach Beendigung des Krieges achten. Bethmanns Versuch, England mit solchen Zusicherungen aus dem Krieg herauszuhalten, liefert einen frühen Hinweis auf seine Kriegsziele im Westen.

Die Entscheidungsträger in Berlin warteten nun wie auf Kohlen darauf, dass sich Russland mit seiner Mobilisierung ins Unrecht setzen würde.

Sie nahmen sich vor, am 31. Juli um 12 Uhr mittags selber den unwiderruflichen Schritt zum Krieg zu vollziehen und brachen in Jubel aus, als 20 Minuten vor Ablauf der selbstgesetzten Frist die Nachricht von der russischen Generalmobilmachung in Berlin eintraf.

"Überall strahlende Gesichter - Händeschütteln auf den Gängen; man gratuliert sich, dass man über den Graben ist", notierte der bayerische Militärbevollmächtigte nach einem Besuch im preußischen Kriegsministerium.

In einem Ultimatum wurde Frankreich aufgefordert, sich innerhalb von 18 Stunden zu erklären. "Nun, wir möchten die Brüder doch auch dabei haben", rief Generalmajor Wild von Hohenborn aus. Die Generäle waren begeistert von der Standhaftigkeit des Kaisers: "Seine Haltung und Sprache sind würdig eines Deutschen Kaisers! würdig eines preußischen Königs", jubelte Erich von Falkenhayn.

Bis zu diesem Punkt schien die deutsche Strategie aufzugehen. "Stimmung glänzend", stellte Admiral von Müller begeistert fest. "Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen." Bei der Unterzeichnung der Mobilmachungsorder am 1. August 1914 auf einem Tisch, der aus Holz von Lord Nelsons Flaggschiff Victory geschnitzt war, hatten der Kaiser und Falkenhayn Tränen der Rührung in den Augen.

Der Krieg ist da - Wilhelm II. lässt Sekt kredenzen

Für einen Moment schienen die Dinge noch besser zu werden, als eine Depesche Lichnowskys die Neutralität Englands in einem Krieg Deutschlands gegen Frankreich und Russland in Aussicht stellte. "Welch fabelhafter Umschwung", schrieb Müller in sein Tagebuch. In "sehr gehobener Stimmung' ließ der Kaiser Sekt kredenzen. Doch bald stellte sich Lichnowskys Nachricht als Irrtum heraus; der Krieg gegen alle drei Mächte der Entente - also der Weltkrieg - war da.

Als der amerikanische Botschafter Walter Page am Nachmittag des 4. August 1914 in London zur deutschen Botschaft fuhr, um für die Dauer des Krieges die Geschäfte des Deutschen Reiches zu übernehmen, fand er den Fürsten Lichnowsky wie einen Gebrochenen im Schlafanzug herumirrend vor.

Mechtilde von Lichnowsky

Mechtilde von Lichnowsky in der Zwischenkriegszeit.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Die Fürstin Mechthild Lichnowsky, eine geborene Gräfin Arco-Valley, wischte das Porträt Kaiser Wilhelms vom Schreibtisch ihres Mannes und rief aus: "Das ist das Schwein, das dies verbrochen hat!" Und als der US-Botschafter kurz darauf mit George V. sprach, fragte ihn der König verzweifelt: "My God, Mr. Page, what else could we do?"

In der Tat: Was hätte Großbritannien anders tun können, als Deutschland den Krieg zu erklären? Wie hätte die Welt ausgesehen, hätte sich England 1914 aus dem Konflikt auf dem Kontinent herausgehalten?

Berlin träumte von einem großdeutschen Superstaat

In seinem berüchtigten, 1961 von Fritz Fischer veröffentlichten Septemberprogramm - mit der Niederschift hatte der Kanzler bereits Mitte August 1914 begonnen - nannte Bethmann Hollweg als allgemeines Ziel des Krieges die "Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit".

Zu diesem Zweck müsse "Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu entstehen kann, Russland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden".

Frankreich dürfe keine Armee mehr aufstellen und müsse seine Erzgebiete, einen Küstenstrich "von Dünkirchen nach Boulogne" sowie seine Kolonien an Deutschland abtreten. In der neuen Staatenordnung werde Belgien zu einem "Vasallenstaat" des Deutschen Reiches "herabsinken", der gesamte Kontinent in einem Wirtschaftsverband unter der Vorherrschaft Deutschlands zusammengefasst werden.

Als Pendant käme ein zusammenhängendes mittelafrikanisches Kolonialreich unter Einschluss des Kongo hinzu. In seinem Buch Griff nach der Weltmacht konnte Fischer belegen, dass diese Ziele im Verlauf des Krieges grundsätzlich gleichgeblieben sind, ja, im Osten sind sie teilweise durchgesetzt worden, als Trotzki im März 1918 den Diktatfrieden von Brest-Litowsk unterzeichnete.

Friedensverhandlungen in Brest-Litwosk, 1917

Empfang der russischen Delegation für die Verhandlungen über einen Waffenstillstand auf dem Bahnhof von Brest-Litowsk durch deutsche Offiziere im Jahre 1917.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Wilhelm II., die Militärs und einflussreiche Teile der Öffentlichkeit teilten diese Ziele vollauf und gingen in ihren Forderungen sogar noch weiter. In seiner Denkschrift vom 9. September 1914 stellte Bethmann Hollweg fest, er werde seit geraumer Zeit vom Kaiser gedrängt, eine Art ethnische Säuberung an der flandrischen Küste Belgiens und Frankreichs vorzunehmen, um dort verdiente deutsche Soldaten als Bauern anzusiedeln. Flanderns Küste mit den Häfen Antwerpen, Zeebrügge, Ostende, Dünkirchen, Calais und Boulogne bezeichnete der Kaiser als "das Kampfziel meiner Marine".

"England ist unser erbitterter, geschworener Haß- und Neiderfüllter Concurrent"

War dies also, wie Niall Ferguson behauptet hat, für England "der falsche Krieg", der Kriegseintritt der "größte Fehler" seiner ganzen Geschichte?

Hätte es zusehen sollen, wie Frankreich von der deutschen Armee niedergeschmettert und Belgien annektiert oder zum Vasallenstaat herabgedrängt wurde, deutsche Veteranen entlang des Ärmelkanals angesiedelt wurden und deutsche Kriegsschiffe und U-Boote in Brest und Bordeaux, später eventuell in Gibraltar und auf den Azoren, in Westafrika und der Karibik Stützpunkte errichteten, ein deutsches Kolonialreich quer durch Afrika erobert und Russland zum Agrarland degradiert wurde, mit deutschen Satellitenstaaten bis zum Kaukasus und deutschen Truppen vor den Toren Ägyptens und Indiens?

Was wäre dann der nächste Schritt gewesen? Wo sollte das alles enden?

Und abgesehen von der Frage der eigenen Sicherheit und der moralischen Verpflichtung den Ententepartnern gegenüber, welche Folgen für das internationale Recht hätte bei einer derartigen gewaltsamen Umwälzung der europäischen Staatenordnung ein britisches Hinwegsehen gezeitigt?

Im September 1917 verdeutlichte Kaiser Wilhelm II. Georg Michaelis, dem Nachfolger Bethmann Hollwegs als Reichskanzler:

Ich kenne England und die Engländer besser als meine Landsleute zumal meine Beamten, zumal das Ausw[ärtige] Amt!

Wenn Ew. Exz. Herren Vorgänger im Amte meinen Rathschlägen und Anregungen besser gefolgt wären, statt ihren Continentalpolitiktheorien zu folgen und mich nicht anzuhören, wäre die Behandlung der Kerls eine andere gewesen und vieles anders gekommen!

Ew. Exz. wollen sich klar machen: England ist unser erbitterter, geschworener Haß- und Neiderfüllter Concurrent, hat als solches sicher auf Gewinnen der Parthie spekuliert; verliert er sie, so wird der Haß nur größer; und der Kampf geht wirtschaftlich schonungslos weiter, nach dem Frieden, der für England eine auch nach außen erkennbare Niederlage werden muß. [...]

England hat den I Punischen Krieg - so Gott will - nicht gewonnen also verloren; wir haben es aber nicht bezwungen und scheinen es auch nicht zu können im Augenblick.

Also wird der II Punische Krieg - hoffentlich unter besseren Alliiertenbedingungen und Chancen - unbedingt sofort vorbereitet werden müssen. Denn er kommt. Ehe einer von uns beiden nicht allein oben ist, giebt es keinen Frieden in der Welt!

Condominium gestattet Großbritannien nicht; also muß es hinausgeschmissen werden. Es ist dasselbe wie '66 mit Österreich; was die Vorbedingung für '70 war! [...]

So ist es mit England in der Welt auch. Um das ordentlich niederringen zu können, müssen jetzt im Frieden unbedingt milit. und marinepolitisch die Vorbedingungen geschaffen werden.

Des Kaisers Wüten liest sich wie eine erschreckende Vorhersage des Zweiten Weltkrieges.

Und in der Tat: Im September 1940 jubelte Wilhelm II. im Exil nach der Eroberung Polens, Dänemarks und Norwegens, der Niederlande, Belgiens und Frankreichs, Hitlers Krieg sei

"eine Folge von Wundern! Der altpreußische Geist von Fredericus Rex, von Clausewitz, Blücher, Yorck, Gneisenau etc. hat sich wieder gezeigt, wie in 1870-71. [...] Die brillianten führenden Generäle in diesem Krieg kamen aus Meiner Schule, sie kämpften unter meinem Befehl im [Ersten] Weltkrieg als Leutnants, Hauptmänner und junge Majoren. Geschult von Schlieffen führten sie die Pläne durch, die er unter meiner Leitung ausgearbeitet hatte, genauso wie wir es 1914 taten."

Während die Meinungen über Sinn und Unsinn der britischen Kriegserklärung vom 4. August 1914 geteilt sind, gilt auf der Insel der Zweite Weltkrieg unumstritten als "guter" oder "gerechter" Krieg, doch die Unterscheidung trügt.

Bei dem Entschluss zum Krieg gegen Hitler am 3. September 1939 ging es nicht, wie viele Briten glauben, um einen Kreuzzug für die Demokratie gegen eine barbarische Diktatur, geschweige denn um eine Rettungsaktion der europäischen Juden, sondern um einen machtpolitischen Existenzkampf, der unausweichich geworden war, sollte der militärischen Expansion des Deutschen Reiches überhaupt noch Einhalt geboten werden.

Mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 war ebenso wie mit dem Einmarsch der kaiserlichen Armee in Belgien am 3. August 1914 eine rote Linie überschritten worden, die ohne den Kriegseintritt Großbritanniens mit Sicherheit zur Eroberung des Kontinents geführt hätte.

Die Opfer, die Engländer, Schotten, Waliser und Iren, Kanadier, Australier, Neuseeländer, Inder und Afrikaner (um von den anderen Völkern ganz zu schweigen) erbringen mussten, sollten sich als ungeheuerlich erweisen und weitaus schrecklicher, als sich überhaupt jemand vorstellen konnte, als der Krieg begann. Aber sie waren ein notwendiges Übel und nicht die Folge von Fehlentscheidungen einer weltabgewandten Elite in London, die schlafwandelnd in einen sinnlosen Krieg hineingeschlittert ist.

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