Süddeutsche Zeitung

Kämpfe um Ost-Ghouta:"Normalität und Hölle liegen in Syrien in unmittelbarer Nachbarschaft"

UN-Generalsekretär Guterres nennt es die "Hölle auf Erden", selbst hartgesottenen Mitarbeitern von Hilfsorganisationen fehlen angesichts des Leids die Worte. Ein Gespräch mit dem Care-Nothilfekoordinator Marten Mylius über Ost-Ghouta.

Interview von Lars Langenau

Marten Mylius, 41, ist seit Anfang 2012 Care-Nothilfekoordinator für den Nahen Osten mit Sitz in Amman. Über Partnerorganisationen steht er in Kontakt mit Helfern im heftig umkämpften Ost-Ghouta - und berichtet von dramatischen Szenen.

SZ: Herr Mylius, ich erreiche Sie telefonisch in Amman. Wie halten Sie Kontakt nach Ost-Ghouta, der gerade schwer umkämpften Stadt nahe Damaskus?

Marten Mylius: Hauptsächlich über unsere Partner, telefonisch und über Internetverbindungen. Care ist seit 2013 in Syrien vor allem über syrische Partnerorganisationen vor Ort vertreten, die sich um Menschen in den umzingelten Enklaven bemühen. Direkt mit unseren Mitarbeitern sind wir nur in den kurdischen Gebieten auf syrischem Gebiet tätig.

Berichte aus dem Bürgerkriegsland über die Gleichzeitigkeit eines normalen Lebens und den Kriegszustand sind verstörend.

Augenzeugen berichten davon, dass auch von Idlib aus gerade 250 000 Menschen auf der Flucht sind und in der noch nicht einmal 100 Kilometer entfernten Küstenstadt Latakia das Leben ganz normal weitergeht. Es ist irritierend, dass es oft nur wenige Kilometer vom Präsidentenpalast bis zu den Kellern sind, in denen Menschen leiden und sterben. Aber eine gewisse Normalität und die Hölle liegen in Syrien in unmittelbarer Nachbarschaft.

Was berichten Ihre Verbindungsleute von Ost-Ghouta?

Es leben in Ost-Ghouta etwa 400 000 Menschen unter militärischer Belagerung der syrischen Armee und ihren Verbündeten. Sie berichten von schweren Kämpfen und Bombardierungen aus der Luft und am Boden in den vergangenen 48 Stunden. Ganz massiv und gezielt wurde die zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Märkte und Wohnhäuser angegriffen. Wir befürchten eine humanitäre Katastrophe, auch weil es keinen Ort mehr gibt, an dem die Menschen in Sicherheit sind.

Was vermuten Sie hinter dem jetzigen schweren Bombardement, schließlich steht Ost-Ghouta schon seit 2012 unter militärischer Belagerung des syrischen Regimes?

Offiziell ist Ost-Ghouta nach wie vor eine Deeskalationszone und eine der wenigen noch existierenden Enklaven der Rebellen auf syrischem Staatsgebiet. Einzelne vor Ort aktive Gruppen wurden aber nie verschont. Wir erwarteten schon seit Längerem, das jetzt genau die als Vorwand dienen, diese Gebiete zurückzuerobern. Nachdem die syrische Armee mit Unterstützung ihrer Verbündeten den Kampf gegen terroristische Gruppen weitgehend gewonnen hat, knöpften sie sich jetzt die anderen Rebellenhochburgen vor und erobern nach und nach die letzten Gebiete, die lange Zeit nicht mehr unter der Kontrolle des Staates standen.

Auf Al-Jazeera ist zu lesen, dass allerdings auch von Ost-Ghouta aus Damaskus angegriffen wird und die Eingeschlossenen als menschliche Schutzschilde benutzt werden. Könnte Syriens Machthaber Baschar al-Assad die Angriffe womöglich als Selbstverteidigung rechtfertigen?

Diese Interpretation ist hanebüchen, auch wenn es da vereinzelte Gruppen aus dem islamistischen Spektrum gibt, die sich sicher nicht friedlich verhalten. Dazu muss man aber auch wissen, dass sie aus anderen Gebieten Syriens vorher vertrieben wurden und sich da jetzt sammeln, weil ihre Rückzugsmöglichkeiten immer weniger werden.

Noch mal: Unter den Verteidigern von Ost-Ghouta sollen sich auch Al-Qaida-Verbündete wie Jabhat Fateh al-Sham (ehemals Al-Nusra-Front) befinden.

Ost-Ghouta wird beschossen, aber das kann ja nicht dazu führen, dass wir zu dem Leid der Hundertausend Zivilisten vor Ort schweigen. In den vergangenen 48 Stunden sind eben auch viele zivile Einrichtungen unter massiven Feuerbeschuss geraten. Ich kann gar nicht mehr so viele Superlative finden, um die verheerende Situation vor Ort zu beschreiben. Ähnliches kenne ich nur aus Aleppo, wo auch niemand Rücksicht auf die Zivilisten genommen hat, um zu einer Lösung des Konflikts zu kommen.

In Aleppo wurden Ende 2016 Korridore geschaffen, die den Abzug der Rebellen ermöglichten.

Das zivile Leben in dieser Großstadt wurde unmöglich gemacht. Es ist schwierig zu sagen, ob es Zufall war, dass man immer die Krankenhäuser, Märkte und Bäckereien trifft.

Wie kann man sich eine moderne Belagerung vorstellen?

Dass eine Stadt komplett abgeschlossen wird, funktioniert oft noch immer wie im Mittelalter. Allerdings war es bis vor etwa zehn Monaten noch möglich, über die Checkpoints verschiedener Gruppierungen Hilfslieferungen in die belagerten Städte zu bekommen. Dadurch entsteht natürlich eine ganz eigene Kriegsökonomie, bei der man letztendlich nicht weiß, wer davon alles profitiert. Es müssen etwa für Lebensmittel und Benzin wesentlich höhere Preise als anderswo bezahlt werden. In Ost-Ghouta gab es zudem ein weit verzweigtes Tunnelsystem, dass den Schmuggel begünstigte. Ein Kilo Reis soll dort inzwischen viereinhalb Dollar kosten, was sich aber kaum noch jemand leisten kann. Dies führt zu einer massiven Unterernährung gerade der Kinder und Mütter.

Care musste jetzt wegen der Luftangriffe die Hilfe einstellen. Was ist notwendig, damit Hundertausende Syrer wieder lebensrettende Hilfslieferungen bekommen?

Eigentlich klingt alles hohl: Die Menschen in den Kellern vor Ort sagen, dass sie kein Brot, sondern Sicherheit brauchen. Deshalb haben wir uns der UN-Forderung nach einer sofortigen Waffenruhe von wenigstens einem Monat angeschlossen, um wenigstens die Nahrung zu liefern und die Verletzten zu versorgen.

Wie könnte eine längerfristige Lösung aussehen?

Es geht uns jetzt primär darum, dass eine Waffenruhe herbeigeführt wird und der humanitäre Zugang sichergestellt wird. Seit sieben Jahren leidet die Zivilbevölkerung nun unter diesem Krieg und die humanitäre Hilfe ist unter Dauerbeschuss. Das muss aufhören - unabhängig davon, um welche Kriegsparteien es sich handelt.

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