Es begann mit einer verweigerten Unterschrift unter einen EU-Vertrag und ähnelte zeitweise einem Bürgerkrieg. In Kiew schossen Scharfschützen auf das Volk, im Westen des Landes haben Aufständische Behörden besetzt und Polizeistationen überfallen. Schusswaffen wurden entwendet, sie werden wohl auch von Aufständischen eingesetzt. Und der Parlamentsvorsitzende der Krim, wo besonders viele Menschen russische Wurzeln haben, erklärte am Donnerstag, die Halbinsel müsse sich von der Ukraine lösen, sollte das Land ins Chaos stürzen.
Einen Tag später haben sich Präsident Janukowitsch und die Opposition offenbar auf eine friedliche Lösung geeinigt, bei der jedoch abzuwarten ist, ob sich alle Beteiligten daran halten.
Seit ihrer Unabhängigkeit vor 22 Jahren ringt die Ukraine um ihre eigene Identität. Die Bruchlinien sind in der Geschichte des Gebietes angelegt, das mal von den Tartaren überrannt wurde, mal unter litauischer, polnischer, habsburgischer Herrschaft und schließlich auch deutscher Besatzung stand und das seine gegenwärtigen Grenzen erst als Republik der Sowjetunion fand. Die Prügelszenen im Parlament, wenn dort mal wieder um die Sprachenfrage gestritten wurde, mögen auf Beobachter aus dem Westen amüsant gewirkt haben. Tatsächlich waren sie ein Symbol dieses Ringens.
Dazu kommen Kräfte, die von außen an der Ukraine zerren. Seit dem Beginn der Proteste mahnt das russische Außenministerium, die Ukrainer müssten selbst über ihr Schicksal entscheiden. Damit mag anfangs Präsident Viktor Janukowitsch gemeint gewesen sein. Seit ihm die Kontrolle entgleitet, wird in Moskau diskutiert, man könne die Ukrainer doch ein Referendum abhalten lassen. Dessen Ausgang dürfte mit großer Sicherheit die historisch angelegte Teilung in den nach Europa orientierten Westen und die russisch geprägten Gebiete im Osten und Süden manifestieren.
Vereint im Kampf gegen Janukowitsch
Alle, die das verhindern wollen, sollten sich jetzt die Frage stellen: Was kann die Ukraine noch zusammenhalten? Kein Volk und keine Nation ist dazu verdammt, sich auf ewig von der Geschichte bestimmen zu lassen. Was in der Ukraine möglich ist, hat ausgerechnet der Maidan gezeigt. Während der friedlichen Demonstrationen wurde auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz der Traum einer geeinten Ukraine lebendig.
Der Ingenieur aus Odessa stand neben der Lehrerin aus Lemberg, im Lazarett versorgte die Ärztin aus Tscherkassy den verwundeten jungen Mann, der aus Luzk angereist war. In der Zeltstadt lebten Anhänger europäischer Werte, Menschen die sich mehr Wohlstand und Visafreiheit erhofften, Anhänger der Oppositionsparteien von Julia Timoschenko und Vitali Klitschko und, ja, auch Russland-Hasser und Nationalisten zusammen. Sie alle einte ein Ziel: Nicht weiter unter der korrupten Clique von Janukowitsch leben zu müssen.
Es sieht sehr danach aus, als würde diese sich nicht mehr lange halten können. Deshalb sollten Warschau, Berlin, Brüssel schnellstens das tun, was sie in der Außenpolitik zuletzt versäumt haben: Eine Strategie entwerfen, wie man diesem Szenario begegnet. Denn wenn die Ukraine geteilt wird, ist auch Europa wieder geteilt.