Afghanistan:"Heilloses Chaos und Aufregung"

Konflikt in Afghanistan -Evakuierung durch USA und Großbritannien

"Die Situation wird immer belastender": Britische und amerikanische Soldaten koordinieren die Evakuierungsmission am Flughafen Kabul.

(Foto: dpa)

Die Bundeswehr berichtet von katastrophalen Zuständen am Flughafen Kabul, das Auswärtige Amt fordert Deutsche auf, das Gelände zu meiden. G-7-Staaten wollen am Dienstag über die Lage in Afghanistan beraten.

Von Mike Szymanski und Hubert Wetzel, Berlin/Washington

Die Lage am Flughafen Kabul, wo Tausende Menschen auf der Flucht vor den militant-islamistischen Taliban sind und hoffen, ausreisen zu können, hat sich übers Wochenende abermals zugespitzt. Im Gedränge vor den Schleusen gab es Verletzte und mindestens zwanzig Tote in den vergangenen Tagen, berichtet die Nachrichtenagentur AP. Die Evakuierungsmission durch die Bundeswehr ist zwischenzeitlich ins Stocken geraten, weil die Zugänge zum Flughafen wegen des Chaos teils für Stunden geschlossen waren. Im militärischen Teil halten sich mehrere Tausend Menschen auf, die mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln versorgt werden müssen. Deutsche A400M-Transportmaschinen brachten am Wochenende Hilfsgüter an den Flughafen.

Der Kommandeur der deutschen Soldaten in Kabul, Brigadegeneral Jens Arlt, sprach am Sonntag von einem "heillosem Chaos und Aufregung", wozu die Schließung der Tore geführt habe. "Leute werden gedrängt, gequetscht, zum Teil runtergetrampelt - das ist die Situation, wie sie sich darstellt." Erst mit der Zeit habe sich die Lage etwas entspannt. "Aber das ist eine Momentaufnahme." Die britische Regierung berichtete von sieben Menschen, die ums Leben gekommen seien.

Nachdem die USA ihren Staatsbürgern davon abgeraten haben, zum Flughafen zu kommen - unter anderem aus der Sorge vor terroristischen Anschlägen - bittet auch das Auswärtige Amt darum, den Flughafen wegen der schwierigen Sicherheitslage zu meiden. Damit schwinden jedoch für Schutzsuchende die Chancen, das Land zu verlassen.

Ein mit der Rettungsaktion befasster Soldat schilderte die Lage im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung in dramatischen Worten: An den Absperrungen zum Flughafen würden den Soldaten Kinder überreicht, in der Hoffnung, dadurch selbst gerettet zu werden. Es werde auch um Kinder, eigene wie fremde, gestritten. "Es ist die totale Katastrophe", erklärte der Soldat. Die Entscheidung, welches Menschenleben gerettet werde, liege mittlerweile faktisch in den Händen der Soldaten. "Die Situation wird immer belastender."

Hubschrauber können nicht eingesetzt werden

Zwei am Samstag nach Kabul verlegte Hubschrauber der Spezialkräfte, die für Evakuierungseinsätze in Stadtgebieten besonders geeignet sind, kamen am Sonntag zunächst nicht zum Einsatz. Dabei seien die Straßen zum Flughafen weiterhin verstopft, die Kontrollen durch die Taliban sind engmaschig. Aus Militärkreisen verlautete: Die Taliban seien nicht das Problem, sie ließen die internationalen Truppen bislang gewähren. Das Problem seien die Menschenmassen, die Rettungsmissionen gefährden könnten.

Der stellvertretende Generalinspekteur, Generalleutnant Markus Laubenthal, erklärte am Sonntag: "Die Hubschrauber sind eine weitere Option." Die Lage vor Ort müsse deren Einsatz aber zulassen. Zudem müssten solche Einsätze "eng mit den US-Kräften koordiniert werden". Derzeit biete sich den Soldaten aber auch bei geschlossenen Toren immer wieder die Gelegenheit, kleine Gruppen in den Flughafen zu schleusen. Wie das funktioniert, darauf ging Laubenthal nicht näher ein.

Für Verärgerung innerhalb der Truppe sorgt der Umstand, dass die Hubschrauber-Mission bereits am Donnerstagabend vom CDU-Politiker Johann Wadephul bei einem Auftritt in einer Talkshow öffentlich gemacht worden war. Das Ministerium erklärte am Sonntag, das frühe Bekanntwerden der Pläne habe keine Auswirkungen auf den Einsatz.

Die Bundesregierung hat wiederholt eingestanden, dass sie vom Tempo der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan überrascht wurde. Nun schrieb Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer an Abgeordnete: "Unsere Lageeinschätzung war falsch, unsere Annahmen über die Fähigkeiten und die Bereitschaft zum afghanischen Widerstand gegen die Taliban zu optimistisch." Das Schreiben liegt der SZ vor.

US-Militär fordert 18 zivile Flugzeuge an

Am kommenden Dienstag soll ein Sondergipfel der G-7-Staaten zur brisanten Lage in Afghanistan stattfinden. "Ich werde die Staats- und Regierungschefs der G 7 am Dienstag zu dringenden Gesprächen über die Lage in Afghanistan einberufen", teilte der britische Premierminister Boris Johnson via Twitter mit. Großbritannien hat derzeit den Vorsitz in der Runde der führenden westlichen Industrienationen inne.

In den USA aktivierte das Verteidigungsministerium die sogenannte Civil Reserve Air Fleet. So wird eine Flotte von Passagierflugzeugen genannt, die zivilen Fluglinien gehören und dort normalerweise genutzt werden, die das Pentagon jedoch in Notfällen anfordern kann, um die militärischen Transportkapazitäten zu vergrößern.

Berichten zufolge hat das US-Militär zunächst 18 zivile Flugzeuge angefordert. Sie sollen nicht in Kabul landen, das wäre für die zivilen Piloten angesichts der schwierigen Sicherheitslage dort zu riskant. Stattdessen sollen mit den Maschinen die Menschen weitertransportiert werden, die bereits aus Afghanistan ausgeflogen wurden und zunächst auf US-Stützpunkten in Katar, Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten abgesetzt wurden. Auf diese würde das US-Militär entlastet. Die Civil Reserve Air Fleet wurde 1952 eingerichtet - nach der Berliner Luftbrücke, bei der die Stadt monatelang aus der Luft versorgt wurde.

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