Die Entscheidung, die im Bundestag an diesem Freitag unter Tagesordnungspunkt 18 getroffen werden muss, ist nach menschlichem Ermessen die schwierigste, die Abgeordneten abverlangt werden kann. Sie werden beschließen, dass 5000 Soldaten der Bundeswehr ein weiteres Jahr in Afghanistan ihren Dienst zu tun haben. In diesem Jahr werden wieder deutsche Soldaten am Hindukusch sterben. In diesem Jahr werden deutsche Soldaten wieder Afghanen töten, im schlimmsten Fall auch Unbeteiligte. Diese Verantwortung ist den Abgeordneten bewusst, was in aller Regel der Qualität der Debattenbeiträge im Plenum zugutekommt. Dennoch ist es so, dass die wichtigste Rede vor dieser Mandatsverlängerung nicht im Bundestag gehalten wurde, sondern vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses.
In seiner Rede zur Lage der Nation hat Präsident Barack Obama angekündigt, dass im Juli die Rückkehr der US-Truppen aus Afghanistan beginnt. Benötigt hat er dafür nicht mehr als einen kurzen Satz ohne Konjunktive. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, in amerikanischen Dingen sonst bewandert, hätte ahnen können, dass Obama sein schon länger geltendes Versprechen über den Beginn des Abzugs bekräftigen würde. Guttenbergs letztlich aufgegebener Abwehrkampf gegen den konkreten Termin Ende 2011 für eine erste deutsche Truppenreduzierung wirkt daher, gelinde gesagt, unpolitisch. Keine Bundesregierung bei Trost kann ein amerikanisches Signal zum Abzug ignorieren.
Überdies liegt das Bekenntnis zu einer absehbaren Truppenreduzierung in der Logik einer Afghanistan-Politik, die sich international grundlegend verändert hat. Die Kombination aus einem ambitionierten Zeitplan und bescheidenen Zielen soll den Truppen des Westens den verantwortbaren Weg aus Afghanistan weisen. In diesem Jahr werden, wenn es nach Plan läuft, erste Provinzen in einheimische "Sicherheitsverantwortung" übergeben, Ende 2014 dann das ganze Land. Die Mission darf als erfüllt gelten, wenn dann die afghanischen Verbindungen zum Terrornetzwerk al-Qaida gekappt sind, kein Bürgerkrieg herrscht und - um ein Beispiel zu nennen - Mädchen noch zur Schule gehen dürfen. Nach Jahren eines Einsatzes ohne erkennbares Ende nehmen die meisten Abgeordneten, einschließlich jener von der SPD, diesen Plan dankbar an. Ihnen geht es dabei wie dem Durstigen in der Wüste: Er prüft das Wasser nicht auf seine Qualität.
So lauert in dem, was heute Segen ist, schon der Fluch. Die deutsche Bevölkerung, ohnehin mehrheitlich gegen den Einsatz in Afghanistan, wird die große Koalition der Befürworter aus Union, FDP und SPD an dem Versprechen messen, dass nach 2014 die Bundeswehr am Hindukusch nicht mehr kämpfen wird. Den Afghanen haben die Kanzlerin und der Außenminister wieder und wieder versprochen, sie auch nach 2014 nicht im Stich zu lassen. Ob beide Versprechen einzulösen sein werden, ist heute unabsehbar. Angela Merkel und Guido Westerwelle, so viel ist sicher, haben es nicht in der Hand.
Vermutlich unter der unbestreitbaren Last der Verantwortung in Afghanistan haben es sich die Deutschen zur Gewohnheit gemacht, das eigene Gewicht zu überschätzen. Das Problem sind dabei nicht die vielen Väter der neuen Afghanistan-Strategie, angefangen von Guido Westerwelle, der für sich reklamiert, sie "ausverhandelt" zu haben, bis hin zu den Sozialdemokraten, die für sich in Anspruch nehmen, Westerwelle zum Ausverhandeln bewogen zu haben. Gefährlich wird es erst, wenn in Deutschland der Eindruck entsteht, die Deutschen hätten wesentlichen Einfluss auf das, was in Afghanistan geschieht. Sie bestimmen aber weder das militärische Handeln der USA noch das Gebaren der korrupten afghanischen Regierung, und auch nicht die Friedensverhandlungen mit den Aufständischen. Kein Plan kann verschleiern, dass die Deutschen hier nicht mehr als eine Nebenrolle ausüben.
Wer, wie die Bundesregierung, behauptet, das deutsche Engagement ehrlicher machen zu wollen, muss auch diese Wahrheit aussprechen: Die Abgeordneten können immer nur über die Verlängerung des Bundeswehr-Einsatzes entscheiden, nicht über dessen Ausgang. Auch wenn die Grünen sich mit Enthaltungen gerne aus der Verantwortung stehlen, gibt es in dieser Lage nur zwei wirkliche Optionen: zum einen das Nein, das ein gutes Gewissen nur jenem Linken bereiten sollte, der allen Ernstes glaubt, in Afghanistan werde nach dem Sofort-Abzug Frieden und Eintracht einkehren - sowie das Ja jener, die zwar mit ihrem Gewissen vereinbaren müssen, dass die Mission so lange missglückt ist, die nun aber eine Chance sehen, Minimalziele zu erreichen.
Seit Beginn des Einsatzes nach dem 11. September 2001 hat die deutsche Politik schmerzliche Lehrjahre durchlaufen. Mit guten Gründen, aber in fahrlässiger Naivität hat sie Soldaten in einen fernen Winkel der Welt geschickt. Das aber kann keine Rechtfertigung sein, die Afghanen nun ihrem Schicksal zu überlassen. Union, FDP und SPD stehen zu dieser Verantwortung. Sie bauen auf einen Plan, der wackelt. Ein besserer ist nicht in Sicht.