Er hat sich in seinen 37 Jahren als Anstaltsleiter hinter Gefängnismauern oft gefragt: Was machen wir hier eigentlich? Und in vielen Situationen Neues versucht und angestoßen. Nun gibt Joachim Walter diese Frage an uns weiter – zusammen mit seinem Lieblingslied aus dem 17. Jahrhundert, in dem ein langer Krieg tobte: „Wer jetzig Zeiten leben will, muss haben ein tapferes Herze.“
„Die Freiheit nehm ich dir“ – so heißt sein Buch, das zugleich sein Vermächtnis ist, gewidmet den vier Enkelkindern. Er selbst hat niemandem die Freiheit genommen. Vielmehr ist er nun nach seiner Pensionierung das, was er eigentlich von Anfang an werden wollte: ein Strafverteidiger, der Menschen vor Freiheitsberaubung bewahren will. In den Jahrzehnten seines Berufslebens dazwischen schickte man ihn – freilich mit eigener Zustimmung – in Baden-Württembergs Gefängnisse als stellvertretenden Leiter nach Heilbronn, Karlsruhe, Stuttgart-Stammheim und als Leiter nach Pforzheim und Adelsheim. Wo er mit Fantasie, Menschenkenntnis und juristischem Sachverstand einer Strafanstalt immer mal wieder menschliche Züge zwecks Vorbereitung für ein Leben in Freiheit einhauchte. Davon handeln die 24 Kapitel, die dem Titel seines Buchs widersprechen. Denn nur für Strafgerichte und für hinter einem sich schließende Gefängnistore gilt: „Die Freiheit nehm ich dir“. Walter aber möchte etwas Besseres als Strafvollzug.
Wie lässt sich gut leben, ohne andere und deren Rechte zu verletzen?
Bereits im Kapitel „Strafrapport“ schreibt er, dass er nach dem darin erzählten Ereignis „niemals mehr an der Verhängung einer Arreststrafe mitgewirkt“ habe. Und dass der totale Charakter der Institution Gefängnis „weiter und weiter zurückgebaut werden muss, will man mehr Humanität erreichen. Genau genommen bin ich am Ende sogar Abolitionist geworden als einer, der von der Abschaffung des Gefängnisses träumt.“ Wenn Joachim Walter fragt: „Was machen wir hier“, möchte er die Orientierung des professionellen Blicks umkehren: nicht auf die Vergangenheit gemeinschaftszerstörender Taten gerichtet, sondern kreativ auf die Zukunft der Möglichkeiten eines Lebens „in sozialer Verantwortung“ ohne Straftaten. Wie lässt sich gut leben, ohne andere und deren Rechte zu verletzen?
Das ist die Stärke dieses Buches, sind die Sternstunden der Berufspraxis dieses Anstaltsleiters: Wo er freimütig Wege aufzeigt und geht, vor denen andere zurückschrecken, weil „wir das noch nie gemacht haben“ oder weil hier „der Gleichberechtigungsgrundsatz verlassen“ wird. Joachim Walter nennt diesen Grundsatz im Kapitel über sinnvolle „Extrawürste“ „eine geheiligte Monstranz“, die viele vor sich hertragen – und die in anderen Kontexten sicher ihre Berechtigung hat.
Die Leser können sich freuen auf Humor und Sachkunde
Der Spannungsbogen ist damit benannt, unter den die dieses Buch Lesenden treten. Gleich aber sei hinzugefügt, dass sie außer unkonventionellen Taten und mancher Prise Humor auch viel Sachkunde erwartet in diesem informativen „Bericht eines Gefängnisdirektors“ über „Sinn und Unsinn des Strafvollzugs“. Und auch Erstaunen darüber, wie genau der Autor beobachtet und die handelnden Personen bis hin zu Gesichtszügen, Kleidung, Haltung auch nach Jahren noch vorstellen kann, sodass er uns Leser direkt ins Geschehen mitnimmt. Der Verlag hat den Autor außerdem dazu angehalten, für Nichtfachleute zusätzlich vor jedem der Kapitel einige Zahlen und Informationen zum deutschen Justizvollzug mitzuteilen, damit sie die beschriebenen Ereignisse gut einordnen können.

Die anderen Kapitel handeln etwa von sadistischer Hetze Gefangener gegen einen mit ihnen inhaftierten Kindesmörder, von einem wider alle Erwartungen gelungenen Ausbruchsversuch, vom Theater eines Ministerbesuchs, von „Jagdszenen aus Knastilien“, bei denen ein arbeitsscheuer Vollzugsbediensteter die Hauptrolle spielt, und endlich von dem Film „Picco“ über den grauenvollen Siegburger Foltermord von 2006 (die Szene ist dem Rezensenten gut nachvollziehbar, weil er Vergleichbares, allerdings in einer Drei-Personen-Zelle und ohne tödlichen Ausgang, 1970 am selben Ort erlebt hat). In zwei Abschnitten erwähnt Walter auch den stärker zivilgesellschaftlich verankerten „Justizvollzug in freien Formen“, leider aber ohne auf diese sinnvolle Alternative zum Strafvollzug näher einzugehen.
Das Kapitel über Stammheim sagt viel über Juristerei der 70er
Was in den Kapiteln „Ein Vollblutpädagoge oder: das Lernen lernen“ und „Stammheim, Siebziger Jahre“ berichtet wird, gehört ins Stammbuch aller Pädagogen und aller Juristen, nicht nur der in Justizvollzugsanstalten tätigen. Denn wie im Gefängnis der fast zwei Meter große Schulleiter P. die rechtskräftig verurteilten Schulversager und -verweigerer für das Lernen begeistert, könnte wohl jeden wieder auf die Schulbank locken. Und dass ein Anstaltsleiter wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung verdächtigt wird, weil er dazu beigetragen hat, dass deren Hungerstreik nicht tödlich endet, sagt viel über die deutsche Politik in den 1970er-Jahren und über die Hinterhältigkeit von obrigkeitsorientierten Juristen aus.
Zwei Fragen bleiben am Schluss offen: In der einen geht es um pädagogische Beziehungen; es ist in der Regel wichtig und gut, wenn die Menschen auf beiden Seiten als Personen erkennbar werden – wie aber sieht es in dieser Beziehung mit der richtigen Balance zwischen Distanz und Nähe aus? Und: Das Buch ist voll von ermutigenden guten Erfahrungen seines Autors mit „Straftätern“, lässt aber die Frage offen, ob es hier nicht für ihn auch persönliche Enttäuschungen gab – wie mit anderen Menschen (zum Beispiel Dienstvorgesetzten) auch?
Ulfrid Kleinert war 1991–2000 Gründungsrektor der Evangelischen Hochschule Dresden und 2000–2025 ehrenamtlich Vorsitzender der neu gebauten JVA Dresden. Er ist Mitherausgeber von „Ein deutsches Gefängnis im 21. Jh. – Redakteure der unzensierten Dresdner Gefangenenzeitung ‚Der Riegel‘ berichten“ (Radebeuler Notschriftenverlag 2023). In ihm schildern 51 Strafgefangene selbst, was ihnen zu Sinn und Unsinn des Strafvollzugs auffällt.

