Recht:Warum immer weniger Menschen vor Gericht ziehen

Recht: Bei den Landgerichten ist die Zahl der Zivilverfahren um ein Fünftel gesunken, bei den Amtsgerichten um mehr als ein Drittel: Gerichtsgebäude in Regensburg.

Bei den Landgerichten ist die Zahl der Zivilverfahren um ein Fünftel gesunken, bei den Amtsgerichten um mehr als ein Drittel: Gerichtsgebäude in Regensburg.

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Ob Miete, Hausbau oder Versicherungen: In Deutschland werden deutlich weniger Zivilklagen eingereicht als früher. Für den Zustand der Justiz ist das kein gutes Zeichen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Wer das Lied von der überlasteten Justiz im Ohr hat, das etwa der Deutsche Richterbund in Dauerschleife spielt, den dürfte dieser Befund überraschen. Die Zahl der Verfahren an den Zivilgerichten schmilzt wie ein Gletscher unter der Erderhitzung. Immer weniger Menschen und Unternehmen strengen gerichtliche Zivilverfahren an, also zum Beispiel Klagen wegen defekter Ware, überhöhter Mietnebenkosten, fragwürdiger Handwerkerrechnungen, mangelhafter Bauleistungen. Das Zivilrecht umfasst ja nahezu alles, was der Alltag an Konfliktstoff bietet, abgesehen vom Strafrecht. Fachleute beobachten diesen Rückgang schon lange, nun hat das Bundesjustizministerium einen umfangreichen Forschungsbericht vorgelegt, der die Ursachen benennt. Ergebnis: Am rätselhaften Klageschwund haben auch die umständlichen Prozeduren der Justiz ihren Anteil, ihre unzureichende Digitalisierung und die unkalkulierbaren Kosten.

Dem Forschungskonsortium unter Führung der InterVal GmbH gehörten ausgewiesene Wissenschaftlerinnen und Praktikerinnen an, wie Caroline Meller-Hannich von der Universität Halle-Wittenberg und Monika Nöhre, Ex-Präsidentin des Kammergerichts. Ihr Fokus richtet sich auf den Zeitraum von 2005 bis 2019. Die Zahlen, die das Problem umreißen, sind beeindruckend: Bei den Landgerichten ist die Zahl der Verfahren um ein Fünftel gesunken, bei den Amtsgerichten um mehr als ein Drittel - dort zählte man 2019 rund 520 000 Fälle weniger als anderthalb Jahrzehnte zuvor. Das bedeutet zwar nicht, dass Richterinnen und Richter durchweg Langeweile hätten, viele Materien sind inzwischen sehr viel komplizierter geworden. Aber es heißt doch, dass Gerichte gemieden werden - und dies in Deutschland, wo angeblich der Prozesshansel zu Hause ist.

Die Klagelust sinkt an nahezu allen Fronten. Sei es bei der Miete oder beim Hausbau, sei es im Konflikt mit Versicherungen oder Dienstleistern. Nur das Reiserecht verzeichnet einen Boom. Dort zählen die Gerichte rund 85 000 Fälle - sieben Mal so viele wie 2005. Das hat offenbar mit neu geschaffenen Rechtsansprüchen für Reisende zu tun. Und damit, dass sich dort Online-Anbieter wie Flightright tummeln, die den Verbrauchern einen leichten Zugang zum Gericht ermöglichen. Gegen den Trend haben sich natürlich auch die Dieselklagen entwickelt, doch dies illustriert lediglich das paradoxe Dasein der Justiz: Im Allgemeinen laufen ihr die Kläger weg, aber wenn es brennt, werden die Gerichte überrannt.

Unternehmen setzen neue Strategien ein

Woran also liegt die Klageschmelze? Ein wichtiger Faktor für die sinkenden Zahlen sind neue Strategien der Unternehmen mit ihrer Kundschaft. Um unbezahlte Rechnungen gleich von vornherein zu vermeiden, greifen sie häufiger zum Instrument der Vorkasse oder nehmen erst einmal eine Bonitätsprüfung vor. Auch mit diversen Klauseln im Kleingedruckten sichern sich die Betriebe inzwischen besser ab. Kommt es gleichwohl zum Streit mit den Kunden, hat Konfliktvermeidung einen sehr viel höheren Stellenwert als noch vor 10 oder 15 Jahren. 85 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, dass sie Kundenbeschwerden systematisch bearbeiten. Und fast ebenso viele machen unzufriedenen Kunden Kulanzangebote, etwa Preisnachlässe oder Gutschriften. Jedenfalls stellen die Unternehmen fest, dass sie seltener von ihren Kunden verklagt werden. Und dies, obwohl die Menschen sich heute häufiger beschweren und apodiktischer Nachbesserungen fordern als noch vor zehn Jahren.

Dahinter steckt im Grunde die gute Nachricht hinter den verschwundenen Klagen: Viele Konflikte lassen sich mit ein wenig gutem Willen vermeiden. Wobei solche Strategien eher Marketing denn Menschenfreundlichkeit sind, aber egal.

Oft sind es der Studie zufolge jedoch auch schlechte Erfahrungen mit der Justiz, die die Beteiligten von Klagen abhalten. Besonders unattraktiv sind Klagen im Baugewerbe, wo jahrelange Gutachterschlachten drohen. Aber auch kleine Handwerksbetriebe verzichten häufig auf ihre Ansprüche - weil sie schlicht nicht die Zeit haben, sich um einen Prozess zu kümmern.

Ineffiziente Abläufe, langsame Anpassung

Ein wesentlicher Gatekeeper auf dem Weg zum Gericht sind die Anwälte - und deren Befragung zeichnet ein in Teilen desaströses Bild der Justiz. Sie kritisieren die mangelnde digitale Ausstattung, die ineffizienten Abläufe, das mangelnde Tempo bei der Anpassung an moderne Strukturen. Besonders bitter für die Juristenrepublik: Vor allem im Wirtschaftsrecht beklagen Anwältinnen und Anwälte die fehlende Spezialisierung der Richterschaft - also deren mangelnde Fachkenntnisse.

Den Mandanten aus der Wirtschaftswelt dauern die Verfahren mithin zu lang, dort ist Zeit eben Geld. Und den privaten Klägern sind die Kosten zu hoch und die Erfolgsaussichten zu unkalkulierbar. Das sind die Hauptgründe, warum Menschen nicht klagen, sondern darauf hoffen, dass die Anwälte irgendeine andere Lösung finden. Interessant ist dabei: Das generelle Vertrauen der Bevölkerung in die Gerichte hat nicht gelitten, im Gegenteil, die Justiz erzielt in Umfragen gute Werte. Dass Menschen und Unternehmen gleichwohl den Gerichtssaal meiden, folgt eher aus einer persönlichen Kosten-Nutzen-Rechnung: Klagen kosten Zeit, Geld und Nerven.

Der Befund des Berichts legt aus Sicht des Autorenteams also rechtspolitische Konsequenzen nahe. Denn die gesunkene Motivation, vor Gericht zu gehen, beruhe "auf justizorganisatorischen Faktoren" und stelle sich als "rechtsstaatliches Problem" dar. Auch für viele Forderungen, die oberhalb der Bagatellschwelle lägen, "gibt es im derzeitigen Justizsystem letztlich kaum ein passendes Angebot für eine Durchsetzung". Womit ganze Rechtegebiete außerhalb des Sichtfelds der Justiz seien.

Der Weg zum Gericht wird also digitaler werden müssen, von der App für die Einzahlung der Gerichtskosten bis hin zu Portalen für Online-Klagen. Zudem empfiehlt das Autorenteam, auf eine höhere Spezialisierung der Richterschaft hinzuwirken, sei es durch Fortbildungen, sei es durch die Schaffung spezialisierter Gerichte. Und schließlich: Auch neue Instrumente zur Bewältigung von Massenklagen wären hilfreich - weil die Justiz, Stichwort Diesel, partiell eben doch überlastet ist.

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