Man war in der Justiz der frühen Bundesrepublik ja an Skandale gewöhnt, die aus der Nazizeit an die Oberfläche drängten. Aber was aus der Dissertation eines niedersächsischen Justizministers ans Licht gelangte, war schwer zu verkraften. „Nur ein rassisch wertvoller Mensch hat innerhalb der Gemeinschaft eine Daseinsberechtigung“, hatte der junge Hans Puvogel 1937 in seiner Arbeit über die „Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“ geschrieben. „Ein wegen seiner Minderwertigkeit für die Gesamtheit nutzloser, ja schädlicher Mensch ist dagegen auszuscheiden.“ Man schrieb das Jahr 1978, als das Machwerk öffentlich wurde, aber Doktor Puvogel, der er dank dieser Zeilen geworden war, sah keinen Anlass, sich davon zu distanzieren. Erst als ein Richter des Oberlandesgerichts (OLG) Braunschweig unkommentiert ein paar Auszüge aus der Diss seines Ministers im Kollegenkreis herumreichte, wurde der Druck zu groß – Puvogel trat zurück.
Der mutige Mann hieß Helmut Kramer, ein kämpferischer Jurist, der sich mit der Aufarbeitung der NS-Justiz einen Ruf als Publizist und Tagungsleiter erwarb. Später bekam er dafür das Bundesverdienstkreuz, doch im Jahr 1978 erntete er kein Lob, ganz im Gegenteil. Er habe die „Achtungspflicht gegenüber einem Dienstvorgesetzten verletzt“, beschied ihm sein OLG-Präsident im Disziplinarverfahren. „Die der Wahrung der Amtsautorität dienende Achtungspflicht verliert ihre Geltung nicht schon dann, wenn dem Vorgesetzten kritikwürdiges Verhalten zur Last gelegt wird.“ Es stehe dem Richter nicht an, das Ansehen seines Ministers durch die Verbreitung von Tatsachen zu untergraben – „selbst wenn die Tatsachen zutreffend sind“.
Der Vorwurf wurde nie richtig ausgeräumt
Der Präsident stellte das Verfahren damals zwar ein, aber so richtig getilgt wurde der abstruse Vorwurf gegen den untadeligen Kramer all die Jahrzehnte nicht. Dieses Jahr ist Kramer nun 94 Jahre alt geworden, und dank der Intervention seines Sohnes und einiger Weggefährten hat die niedersächsische Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) die Sache endlich geradegerückt und die damalige Verfügung aufgehoben. Klar müssten Richter loyal sein, aber das schließe „weder das Äußern der eigenen Meinung noch das Anbringen von Kritik aus“.
Es geht, anders ausgedrückt, um den Unterschied zwischen kritischer Loyalität und blindem Gehorsam. Eigenständiges Denken und sachliche Kritik seien „konstitutiv“ für einen funktionierenden Rechtsstaat, heißt es in der Begründung des Ministeriums. „Ohne eine kritische Haltung und einen offenen Geist bleibt die sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter leere Form.“
Alles lange her und irgendwie ziemlich aktuell. Die Ministerin erläutert, was im Jahr 2024 unter der „Treuepflicht“ von Beamtinnen und Richtern zu verstehen ist. Dazu gehöre, sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen zu distanzieren, die diesen Staat bekämpften. „Politische Treuepflicht bewährt sich in Krisenzeiten und in ernsthaften Konfliktsituationen, in denen der Staat darauf angewiesen ist, dass die Beamtinnen und Beamten für ihn Partei ergreifen.“