Straftäter:Schuld oder Schicksal

Anschlag in Ansbach

Freier Wille oder fehlgeleitet? Nach dem Attentat von Ansbach beschädigtes Schaufenster eines Fotostudios.

(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Schreckliche Taten wie die von München und Ansbach führen zu der Frage: Ist ein Mensch "schuld" an dem, was aus seinem Leben wird?

Rezension von Martin Hagenmaier

Die schrecklichen Ereignisse in München, Würzburg, Ansbach und Reutlingen oder auch in Frankreich und überall lassen Fragen noch brisanter werden, die in dem jüngst erschienenen Buch "Schuld oder Schicksal?" von Michael Scheele, Rechtsanwalt und Schriftsteller aus München, gestellt werden. Manches in dem Buch könnte als Kommentar dazu gelesen werden.

Ist ein Mensch "schuld" an dem, was aus dem eigenen Leben wird? Können sie oder er anders, als es in ihren Genen bereitliegt? Sind sie frei, Entscheidungen zu treffen oder sind diese in der Psyche - also dem Gehirn - programmiert? Philosophie und Theologie haben diese Fragen früher zu beantworten versucht, heute eher Psychologie und Hirnforschung.

Deutsches Strafrecht basiert auf Schuldprinzip

Vor Gericht und im täglichen Leben findet sie oft diese konkrete Antwort: Wenn alles gutgeht, haben wir frei entschieden, wenn nicht, sind die anderen schuld oder eben das Schicksal.

Vom jeweiligen Stand der Klärung dieser Frage hängen aber wichtige Richtungen im politischen Leben ab, unter anderem das leitende Prinzip des Rechtssystems. Das ist bei uns die Entscheidung für ein Schuldstrafrecht und deren Folgen.

Was Michael Scheele eigentlich als seine Lebenserfahrung für seine eigenen Kinder festhalten wollte, gerät zur kritischen Absage an das Schuldprinzip im deutschen Strafrecht.

So schreibt der Autor über den Impuls zu seinem Buch: "Wenn es euch gelingt zu verinnerlichen, dass die oft unterstellte 'böse Absicht' meist nur das Resultat menschlicher, unverschuldeter Unzulänglichkeiten ist, und dass ein jeder nur bedingt für den Verlauf seiner Lebenslinie (moralisch) verantwortlich gemacht werden darf, fällt es leichter, mit Fehlern anderer - aber auch mit eigenen Misserfolgen - gnädiger umzugehen."

Ist aber ein gnädiger Umgang das Ziel der Justiz und ihrer Organe? Sie bestrafen Verantwortliche und das mit unerbittlicher Hoheit, großem Ernst und oft schweren Folgen für deren weiteres Leben - aufgrund ihrer Schuld.

Dass Schuld nicht ohne Weiteres, vielleicht aber überhaupt nicht feststellbar ist, davon versucht Michael Scheele seine Leserschaft zu überzeugen.

Dazu nimmt er sie mit auf die Reise durch die Ergebnisse von Hirnforschern, Psychologen und Humangenetikern und durch die eigene Lebensgeschichte. Man weiß inzwischen: Der erste Eindruck bleibt entscheidend. Meinungen werden gefestigt, anstatt sie zu überdenken.

Gier nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Belohnung

Die Gier nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Belohnung leitet uns. Gefühle und Erwartungen machen aus dem Gedächtnis eine Angelegenheit der Illusionen, die Zeugenaussagen generell unzuverlässig werden lassen. Die Nacht des Amoklaufs in München hat das geradezu bewiesen. Zeugenaussagen waren es, die im Nachhinein als ein Problem erkannt wurden.

Traumata können genetischen Einfluss auf Folgegenerationen und ihre Wahrnehmungen ausbilden. Soziale Zugehörigkeiten gestalten Wahrnehmungen und Stereotypen. Religionen bilden ganze und brisante Ensembles davon.

Die Meinung, dass im frühchristlich radikalen Glauben der Nichtgläubige des Todes war, ist allerdings nicht zu halten. Im Gegenteil gehört zum christlichen Glauben an den einen Gott das "Gebot" der Feindesliebe, nicht etwa die Rache am Ungläubigen, die der Ansbacher Suizidattentäter offenbar als Teil seiner Zugehörigkeit empfand. War seine Handlung "Vergeltung" dafür, nicht anerkannt zu sein oder nicht dazuzugehören?

Schuldzuweisungen folgen aus Motiven, die wir alle nur zu gut kennen: Eifersucht, Habgier, Neid, Vorurteile und allerhand andere Stereotypen. Einen Schuldigen zu finden beruht allzu oft auf Eigeninteresse, nämlich auf der Selbstrechtfertigung, und "befreit die Psyche".

Dazu ist unser Gehirn in seiner Funktionsweise gut ausgerüstet. Es denkt in einmal gefundenen oder eingeprägten Schablonen - gut meinend gesagt, es denkt bildhaft - und in der Logik der eigenen Bedürfnisse. Allerdings: So ganz ohne eigenen Einfluss auf seine Entscheidungen ist das menschliche Gehirn auch nach Meinung der Hirnforschung dann doch nicht.

Der Hirnforscher Gerhard Roth nennt diesen eigenen Einfluss "Motivstreit", bei dem die Hirnforschung auch nicht voraussagen kann, welches Motiv bei wem gewinnt. Meistens sind es aber prägende Bilder der eigenen Erfahrung, die uns für diese oder jene Handlung prädestinieren.

Gibt es gerechte Urteile, die alle Determinanten berücksichtigen?

Angesichts dieser Sachlage folgert Michael Scheele, dass es keine gerechten Urteile gibt, die alle Determinanten berücksichtigen. Was bedeutet das für den Rechtsstaat?

Er sieht die Konsequenz in der Umgestaltung der Justiz zur "Restorative Justice" oder deutsch zur "heilenden Gerechtigkeit", bei der es nicht um Schuld, sondern um Verantwortung und Wiedergutmachung geht. Und die erste Folgerung für die Politik heißt: Zumindest sollte die mit dem Stichwort "Resozialisierung" beschriebene Richtung des Strafvollzugs in Deutschland endlich angepackt und nicht als Worthülse politisch praktiziert werden.

Die kurzweilige und allgemein verständliche Darstellung von Ergebnissen aus Hirnforschung und Psychologie - verknüpft mit eigener Erfahrung - legt dem Leser größte Sorgfalt in der Schuldfeststellung im Alltag und vor Gericht nahe. Davon kann man - ob als Mitmensch oder als Richter oder eben als Politiker - nicht genug lesen und es dann umzusetzen versuchen.

Der Autor schreibt im Epilog noch über Forschungsergebnisse aus der Evolutionslehre und hofft: "Die evolutionäre Kraft der Kooperation und Empathie haben das Potenzial, die Auswüchse der Ellbogengesellschaft im Zaum zu halten."

Selbstreflektion und Kontrolle der eigenen Wahrnehmungen und Bedürfnisse können auch bei Amok und Terror weiterhelfen, auch wenn diese durch Suizide der Verursacher nie vor Gericht landen. Empathie für die Opfer kann man nicht durch Schuldfeststellung ersetzen.

Martin Hagenmaier ist Theologe und Kriminologe. Er war Seelsorger in der Psychiatrie und in einem Gefängnis. Jetzt trainiert er Strafgefangene in Opferempathie. Sein jüngstes Buch heißt "Straftäter und ihre Opfer" (TBT Verlag).

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