Justiz in den USA:Ausgrenzen und einsperren

Views of Daily Operations at the Deuel Vocational Institution

Immer neue Gefängnisse, immer neue Strafdelikte. Szene aus der Deuel Vocational Institution, einer Strafvollzugsanstalt des Staates Kalifornien.

(Foto: Noah Berger/Bloomberg)

Bryan Stevenson hat ein aufrüttelndes Buch über die US-Justiz geschrieben. Als Treibstoff für die Bestrafungswut sieht er tief verwurzelten Rassismus.

Von Bernd Greiner

Alabama, USA, im ausgehenden 20. Jahrhundert: Obwohl er sich zur Tatzeit nachweislich an einem anderen Ort aufgehalten hatte, wird Walter McMillian wegen Mordes zum Tode verurteilt.

Die vermeintlichen Beweise sind - buchstäblich mit Geld aus der Justizkasse - erkauft, ein Strafgefangener sagt im Sinne der Anklage aus, weil Polizeibeamte ihm mit der Neuauflage seines Prozesses und der Todesstrafe drohen, Entlastungszeugen werden eingeschüchtert, drangsaliert und terrorisiert, Akten verschwinden, Berufungsverfahren scheitern an abenteuerlichen Finten der Staatsanwaltschaft oder ziehen sich schier endlos hin, derweil der Beschuldigte auf vier Quadratmetern hinter schalldichten Betonmauern tagtäglich seine Verzweiflung bändigen muss. Erst nach sechs Jahren und einer Verkettung unwahrscheinlicher Umstände kommt McMillian frei.

Aufgeschrieben hat diese Geschichte ein Anwalt, der auch für ihren glücklichen Ausgang verantwortlich ist: Bryan Stevenson. Statt den üblichen Karriereweg eines Harvard-Absolventen einzuschlagen, entschied er sich Ende der 1980er-Jahre für einen Job mit geringer Dotierung und noch geringerer Erfolgsaussicht.

Mit einer Handvoll Gleichgesinnter aus der "Equal Justice Initiative" bot Stevenson kostenlosen Rechtsbeistand für Häftlinge, die bis dahin weder Mittel noch Möglichkeiten zu ihrer Verteidigung hatten - Todeskandidaten und Lebenslängliche.

Politisches Manifest und Gesellschaftsanalyse

In vielen Fällen war jede Mühe vergeblich. Einhundert in Alabama Verurteilte aber konnte Stevenson in den zurückliegenden 30 Jahren vor der Hinrichtung bewahren - eine schier unglaubliche Bilanz, die schon jetzt seinen Ruf als einer der Größten unter Amerikas Bürgerrechtlern begründet.

In ihrer Tradition steht sein Buch: "Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA". Es ist politisches Manifest und Gesellschaftsanalyse in einem, es zeigt herzzerreißende Schicksale aus unmittelbarer Nähe und reflektiert amerikanische Geschichte mit den Mitteln des distanzierten Beobachters. Dergleichen gelingt selbst investigativen Journalisten selten; Sozialwissenschaftlern gar nie.

Eigentlich sträubt sich alles gegen Stevensons Kernthese, und doch kann man sich ihr am Ende nicht entziehen: Die Vereinigten Staaten sind zu einem Land geworden, das seine gesellschaftlichen Probleme auf dem Wege der Masseninhaftierung glaubt lösen zu können.

Justiz in den USA: Bryan Stevenson, Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. Piper 2015, 416 Seiten, 20 Euro. Als E-Book: 17,99 Euro.

Bryan Stevenson, Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. Piper 2015, 416 Seiten, 20 Euro. Als E-Book: 17,99 Euro.

Drogensüchtige, Arme, Verhaltensauffällige, geistig Behinderte, illegal Eingewanderte - ihre Chance, auf Jahrzehnte oder für den Rest ihres Lebens hinter Gittern zu landen, ist exorbitant, erst recht, wenn sie schwarz, jung und männlich sind. In den vergangenen 40 Jahren stieg die Zahl der Häftlinge von 300 000 auf weit mehr als zwei Millionen, sechs Millionen Männer und immer mehr Frauen sind nur zur Bewährung frei.

Dergleichen sucht weltweit seinesgleichen, ebenso die 80 Milliarden Dollar, die jedes Jahr für Haftanstalten ausgegeben werden - gut das Zehnfache der einschlägigen Etats aus dem Jahr 1980. Zwischen 1990 und 2005 wurde im Schnitt an jedem zehnten Tag eine Haftanstalt eröffnet.

Ebenso fassungslos macht die Maßlosigkeit der Urteile, die Nonchalance, mit der selbst Kinder und Jugendliche wegen Bagatelldelikten weggesperrt werden - Zehntausende ohne Aussicht auf vorzeitige Haftentlassung. Wie Stevenson ihr Leben hinter Mauern beschreibt, bestätigt den bekannten Satz des Schriftstellers Daniel Genis: "Am Eingangstor amerikanischer Gefängnisse endet die Zivilisation." (SZ vom 23. Mai 2015)

Schwarze werden aus Prinzip verdächtigt

Was ist der Treibstoff dieser Bestrafungswut? Angst, Hass, Panik? Bryan Stevenson seziert ein Bündel von Ursachen - von der zum Glaubensbekenntnis mutierten Doktrin der Abschreckung bis hin zu privaten Gefängnisbetreibern, die als Lobbyisten in eigener Sache auftreten und mit Millionenspenden dafür sorgen, dass Politiker ständig neue Strafdelikte in die Gesetzbücher schreiben und Medien Horrorszenarien steigender Kriminalität in die Welt setzen.

Vor allem aber rückt er den seit Jahrhunderten tief verwurzelten Rassismus in ein grelles Licht - und betont zu Recht, dass es sich im Kern um einen kollektiven Wahn handelt. Nur von einem dünnen Firnis überzogen, kann er jederzeit um sich greifen.

Als Schwarzer wird man aus Prinzip verdächtigt, gefürchtet und im Zweifel für schuldig befunden, zumal, wenn intime Beziehungen zu weißen Frauen ins Spiel gebracht werden - siehe den Fall Walter McMillian. Deshalb bleibt dem kantigem Resümee leider nichts hinzuzufügen: "Man kann den Eindruck gewinnen, dass wir uns zu früh über die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung gefreut haben."

Bemerkenswerte Urteile

Der Oberste Gerichtshof hat, auch darauf legt Bryan Stevenson großen Wert, seit 2002 mit einigen bemerkenswerten Urteilen Grenzen gesetzt.

Heute gilt die Hinrichtung geistig Behinderter und die Todesstrafe für Minderjährige für verfassungswidrig, zu lebenslänglich verurteilte Jugendliche haben ein Anrecht auf Haftprüfung und vorzeitige Entlassung. Und Kaliforniens Wähler haben 2012 in einem Volksentscheid das "Three Strike"-Gesetz und damit die Regel abgeschafft, dass eine dritte Straftat - egal wie banal - automatisch mit "lebenslänglich" geahndet wird.

Wofür aber steht der Fall des kalifornischen Richters, der die lebenslange Haftstrafe gegen einen Jugendlichen formal aufhob und stattdessen 175 Jahre Gefängnis verhängte? Offensichtlich ist dabei weit mehr im Spiel als individuelle Bosheit - nämlich allgemein akzeptierte Gleichgültigkeit, Kälte und Verachtung gegenüber jenen, die ihren Platz in der gesellschaftlichen Normalität verloren haben.

Darauf richtet Stevenson unser Augenmerk. Und nicht zuletzt auf die Frage, wie lange sich eine Gesellschaft die Praxis erbarmungslosen Strafens leisten kann, ohne in ihrer Substanz Schaden zu nehmen. Dass selbst Unerschrockene wie er bisweilen vor dem unfassbaren Aufwand ihrer Arbeit zu verzweifeln scheinen, steht am bedrückenden Ende eines aufrüttelnden Buches.

Bernd Greiner, spezialisiert unter anderem auf die neuere Geschichte der USA, arbeitet am Institut für Sozialforschung in Hamburg.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: