Justiz:Gehe nicht ins Gefängnis

Sicherheitsverwahrung in der JVA Freiburg

Ein Mann in der Justizvollzugsanstalt in Freiburg (Baden-Württemberg)

(Foto: dpa)

Der ehemalige Direktor Thomas Galli zeigt Alternativen zum Strafvollzug auf.

Rezension von Ulfrid Kleinert

Der ehemalige Gefängnisdirektor von Zeithain und Torgau, Thomas Galli, hat mit "Weggesperrt" ein gut lesbares, spannendes und teilweise revolutionäres Buch vorgelegt. Dabei erzählt er manche passende Lebensgeschichte aus seinem Erfahrungsbereich. Laut Untertitel will Galli begründen, "warum Gefängnisse niemandem nützen". Tatsächlich macht er aber viel mehr. Er zeigt auf, wie man besser mit Straftaten umgehen könnte, damit die Täter und die Gesellschaft "Leben in sozialer Verantwortung" lernen.

Zu unterscheiden ist bei Galli zwischen Erkenntnissen zum Strafvollzug, die er mit fast allen Fachleuten heute teilt, und seinen Denkanstößen, die Straf- und Prozessrecht fundamental infrage stellen. Gefängnisse sind teuer, aber sie können ihre Aufgaben trotz aller Anstrengungen kaum erfüllen.

Nur im Ausnahmefall verlassen ihre Insassen sie "resozialisiert", selten haben diese dort gelernt, "ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten" zu führen, wie es die Strafvollzugsgesetze aller deutschen Bundesländer fordern. Meist ist die Lage der Haftentlassenen sogar schwieriger geworden als zuvor. Soziales Verhalten, wie es in Freiheit erwartet wird, haben sie nicht lernen können. Der Schaden, den sie angerichtet haben, wurde auch da nicht wieder gutgemacht, wo dies ansatzweise möglich wäre.

Auch sichert "Wegsperren" die Gesellschaft höchstens vorübergehend vor den Menschen, die Straftaten begehen. Denn die allermeisten "sitzen" wegen wiederholter kleinerer Straftaten für wenige Monate oder Jahre. Laut Galli sind das mehr als 90 Prozent der Insassen. In Medien und an Stammtischen aber bestimmen Mörder, Kinderschänder und andere Gewalttäter die Debatte.

Wenn diese auch nach vielen Jahren Haft noch gefährlich erscheinen, sind sie die Einzigen, die lebenslänglich von anderen ferngehalten werden müssen. Galli nennt sie die wenigen "schwersten Fälle", die auf Dauer getrennt von anderen Bürgern untergebracht werden müssen - selbstverständlich in menschenwürdiger Weise, will man den Ansprüchen des Europäischen Gerichtshofs, der UN und humaner Gesellschaften gerecht werden.

Galli wirbt etwa für "dezentrale freie Formen" des Justizvollzugs

Muss das Gefängnis heute also als nicht funktional und als historisch antiquiert gelten, so beginnt die Suche nach Alternativen. Galli nennt hier ein Vielerlei von Möglichkeiten, wobei er es versäumt, sie zu gewichten und zu systematisieren. Er nennt und begründet Maßnahmen, die seit geraumer Zeit auch von anderen Praktikern genannt werden.

Stellt man sie systematisch dar, so beginnen sie mit Vorschlägen zur Vermeidung von Haft und Kriminalisierung. Galli nennt hier "Entkriminalisierung von Drogenkonsum- und Bagatelldelikten", wo dies sinnvoll ist. Dann die "Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe" und den "Ausbau der Bewährungshilfe", so dass auch Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden können. Für Einzelne kommt seiner Meinung nach auch "elektronisch überwachter Hausarrest" infrage.

Aktiver gefordert werden Rechtsverletzer, wenn es bei Galli um "Aspekte der (Wieder-)Gutmachung" geht, in denen die schon heute bestehenden Möglichkeiten des Täter-Opfer-Ausgleichs erweitert werden und das Konzept restaurativer Justiz zum Tragen kommt. Auch "gemeinnützige Arbeit" wird heute bereits als Sanktionsmaßnahme eingesetzt, gelingt aber in der Regel nur, wenn sie angemessen sozialarbeiterisch begleitet und wenn in Projektgruppen gearbeitet wird. Dasselbe gilt für "dezentrale freie Formen" des Justizvollzugs.

Justiz: Thomas Galli: Weggesperrt - Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körber, Hamburg 2020, 312 Seiten, 18 Euro. E-Book: 13,99 Euro.

Thomas Galli: Weggesperrt - Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körber, Hamburg 2020, 312 Seiten, 18 Euro. E-Book: 13,99 Euro.

Galli meint damit von der Justiz verantwortete und von freien Trägern durchgeführte soziale und handwerkliche Projekte in der Region mit einer begrenzten Anzahl von Straftätern. In den sächsischen Strafvollzugsgesetzen sind sie ausdrücklich vorgesehen, aber bisher nur für wenige jugendliche Strafgefangene nach einem in Baden-Württemberg entwickelten Konzept realisiert. Der Koalitionsvertrag der neuen Regierung in Dresden sieht sie jetzt auch für erwachsene Männer und Frauen vor.

Sind dies alles geeignete Maßnahmen, die bereits bestehen oder vom Gesetz her möglich sind und nur eingerichtet oder erweitert werden müssen, so sind Gallis weitere beiden Vorschläge eine kleine Revolution. Ihre Verwirklichung ist nicht kurzfristig möglich, weil sie politischer Vorbereitung und gesetzlicher Regelung bedürfen. Allerdings sind diese Vorschläge nicht neu.

Denn eine kleine interdisziplinäre Forschungsstudiengruppe des Evangelischen Studienwerks Villigst hat sie bereits im Zusammenhang der Justizvollzugsreformdiskussionen der alten Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre gemacht. Damals, als das Justizvollzugspersonal noch Waffen trug und ohne Gesetzesgrundlage nach einer "Dienst- und Vollzugsordnung" arbeitete, galten diese Vorschläge noch als zu radikal. Heute könnte ihre Stunde gekommen sein.

Das Gericht sanktioniert die Vergangenheit, dem Autor geht es um die Zukunft

Galli möchte nämlich in Zukunft auf ein Strafrecht verzichten, in dessen Zentrum die Schuld steht, die ein Rechtsverletzer in der Vergangenheit auf sich geladen habe. Seine Strafe soll nach geltendem Recht dieser Schuld entsprechen. Dahinter steht der alte Rachegedanke. Nur dass die Rache jetzt nicht vom Opfer und seinen Angehörigen, sondern "im Namen des Volkes" vollzogen werden soll.

Das Gericht untersucht und sanktioniert dabei Vergangenheit. Galli aber geht es um die Zukunft - des Opfers, des Täters und auch der Gesellschaft. Deshalb soll staatliches Recht nach Verantwortung fragen. Sie hätte in der Vergangenheit übernommen werden müssen und soll in Gegenwart und Zukunft besser wahrgenommen werden. Nichts anderes meint "Resozialisierung", die nach einhelliger gesetzlicher Bestimmung das Ziel des Justizvollzugs ist.

Damit ein solches zukunftsorientiertes Strafrecht - es müsste jetzt korrekter Maßnahmerecht heißen! - verwirklicht werden kann, bedarf es auch eines neuen Prozessrechts. Denn Juristen sind überfordert, wenn sie über angemessene Maßnahmen entscheiden sollen. Galli möchte deshalb das Gerichtsverfahren in zwei Schritten durchführen.

Zuerst soll ein juristisch besetztes Gremium darüber urteilen, wer in welcher Weise für welche Tat verantwortlich ist. In einem zweiten Gremium beraten und entscheiden dann Mitglieder der Zivilgesellschaft, Opfer(vertreter) und Täter zusammen mit Sozialarbeitern, welche Maßnahmen angesichts der festgestellten Rechtsverletzung zur Übernahme und Einübung von Verantwortung nötig sind und verbindlich umgesetzt werden müssen.

Ulfrid Kleinert ist Theologe und seit 2000 Vorsitzender des Beirats der JVA Dresden und des Hammer Weg e.V. für Strafgefangene.

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