Süddeutsche Zeitung

EuGH:Der Kläger, der nie klagte

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Von Thomas Kirchner, Brüssel

Bogdan Chain konnte nicht glauben, was ihm Anfang 2015 irische Journalisten erzählten. In seinem Namen sei ein Rechtsstreit beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig, erfuhr der Mann aus dem südostpolnischen Stalowa Wola, und bald werde darüber in Luxemburg entschieden. Er wisse von nichts, beteuerte Chain, er habe keine Klage eingereicht; und das stimmt wohl auch. Es könnte sein, dass der Mann das Opfer einer bisher einzigartigen Schein-Klage wurde, die um ein Haar nicht nur alle Instanzen der europäischen Gerichtsbarkeit durchlaufen, sondern auch noch die europäische Sozialgesetzgebung beeinflusst hätte.

Denn das Bizarre am Fall "Chain gegen Atlanco", wie er offiziell heißt, ist, dass er eine sehr interessante Frage geklärt hätte, die etwa drei Millionen Arbeitnehmer in der EU betrifft. Sie alle sind im Laufe eines Jahres in mehr als zwei EU-Staaten tätig. Wo aber zahlen sie Sozialabgaben? Um die Sache zu vereinfachen und die Mobilität der Bürger nicht zu behindern, entscheidet in der EU in diesem Fall der Registrierungsort des Arbeitgebers. Der irischen Leiharbeiter-Firma Atlanco passte das hervorragend: Sie war auf Zypern gemeldet, wo die Sozialabgaben sehr niedrig sind. So konnte sie ihre Leute in Nordeuropa zu konkurrenzlos günstigen Bedingungen einsetzen.

Den EU-Staaten gefällt die Regelung weniger, denn sie müssen ihren Bürger Sozialleistungen gewähren, egal wo sie eingezahlt haben. 2011 entzog Zypern den Iren ohne weitere Erklärungen die Erlaubnis, woraufhin Atlanco klagte, um sein lukratives Geschäftsmodell zu retten. Im April 2014 leiteten die zypriotischen Richter den Fall nach Luxemburg weiter, wo er die Verfahrensnummer C 189/14 erhielt.

Hat sich die irische Firma seiner Personalakte bedient?

Wie aber geriet Bogdan Chain in die Sache? Der Pole hatte tatsächlich einige Jahre für Atlanco gearbeitet. Und er war mehrmals Opfer des EU-Systems geworden: Norwegen hat Sozialabgaben von ihm eingefordert, die er eigentlich schon in Zypern bezahlt hatte, und Polen weigert sich, die Arztkosten zu bezahlen, die nach einer Herzattacke Chains 2014 anfielen. Dennoch: Mit der Klage in seinem Namen hat Chain nach eigener Auskunft nichts zu tun. Die Annahme liegt nicht fern, dass Atlanco sich seiner Personalakte bedient hat, um einen fingierten Fall zu konstruieren.

Das zumindest legen Recherchen jener irischen Journalisten nahe, die durch Zufall auf Chain stießen und darüber kürzlich berichteten. Sie fanden heraus, dass der Anwalt, der Chains Sache anfänglich auf Zypern vertrat, niemals Kontakt mit seinem Mandanten hatte; seine Instruktionen habe er vielmehr von einer Brüsseler Anwaltskanzlei erhalten. Die wiederum handelte offenbar gleichzeitig im Auftrag von Atlanco, was standeswidrig wäre.

Obwohl Chain beim EuGH protestierte, gab es im März 2015 eine Anhörung. Am 21. Mai stellte sich der Generalanwalt, dem EuGH-Richter meist folgen, im Schlussantrag auf Atlancos Seite. Inzwischen hat Zypern das Verfahren beim EuGH zurückgezogen, zyprische Staatsanwälte ermitteln nun. Das offizielle Schreiben sei aber erst am 28. Mai eingetroffen, sagt ein EuGH-Sprecher. Im Übrigen müsse sich das Gericht bei "Vorabentscheidungsverfahren" auf die Angaben nationaler Gerichte verlassen.

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Quelle:
SZ vom 23.12.2015
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