Als die Richter des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag kürzlich noch spät an einem Freitagnachmittag vor die Kameras traten, um die Generäle im fernen Israel vor einem Einmarsch nach Rafah zu warnen, da beendete dies eine juristisch spektakuläre Woche. Begonnen hatte sie mit einem Antrag auf einen Haftbefehl, ebenfalls in Den Haag. Gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu.
Und mehr noch, der Auftritt der Richter beendete einen Monat, der mit einem weiteren Großverfahren begonnen hatte, nämlich gegen deutsche Waffenlieferungen an Israel. Wohl noch nie herrschte am IGH und am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) so viel Betriebsamkeit. Zeitweise mehrmals pro Woche geht es dort derzeit um Gaza. Quasi „in Echtzeit“ begleitet die internationale Justiz gerade das Geschehen, sagt der deutsche Völkerrechtler Markus Krajewski.
Justiz als neue Macht für die Länder des globalen Südens
Das sei ein neues Phänomen. „Wo es früher um juristische Aufarbeitung mit größerer zeitlicher Distanz ging, da geht es jetzt so stark wie noch nie um juristische Intervention“, meint Krajewski, der auch Generalsekretär der Deutschen Vereinigung für Internationales Recht ist – „also um Geschwindigkeit“.
Das bedeute: neue Macht für die internationale Justiz in Den Haag. Und: neue Macht für die Länder des globalen Südens, die diese Justiz zunehmend geschickt zu nutzen wüssten.
Konkret sind es drei juristische Schauplätze, auf denen derzeit rund um Gaza gefochten wird. Da ist erstens die von Südafrika angestrengte IGH-Klage gegen Israel. Richterliche Anordnungen an die Adresse einer Kriegspartei, so wie jetzt im Fall Rafah, „gab es zwar grundsätzlich schon früher, etwa im Fall des Ukrainekriegs“, sagt Krajewski, der an der Universität Erlangen-Nürnberg lehrt. „Aber noch nie war das so kleinteilig, dass eine spezifische Offensive bis in die operativen Details hinein vom Gerichtshof kommentiert wird.“
Der Gerichtshof werde zunehmend aktivistisch genutzt, kritisiert die IGH-Vizepräsidentin
Die ugandische Vizepräsidentin des IGH, Julia Sebutinde, gehört zu den skeptischen Richterinnen, denen dieser neue Trend erkennbar bereits zu weit geht. In ihren Statements kritisierte sie unlängst, dass der Gerichtshof zunehmend aktivistisch genutzt werde, anstatt aus ruhiger Distanz heraus zu bewerten. Auch dem deutschen IGH-Richter Georg Nolte scheint, wenn man seine Voten liest, nicht ganz wohl zu sein damit.
Daneben läuft, zweitens, das internationale Strafrecht – das heißt, die Verfolgung des israelischen Premiers, seines Verteidigungsministers Joav Gallant sowie dreier Spitzenleute der palästinensischen Terrororganisation Hamas. Auch hier fällt auf, wie schnell es neuerdings geht. Zum Vergleich: Im Fall des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte der Chefankläger am IStGH erst nach 13 Monaten einen Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin präsentiert. Im Fall des Gaza-Kriegs kamen die entsprechenden Anträge schon nach der Hälfte der Zeit.
Drittens arbeitet der IGH zurzeit auch noch im Auftrag der UN-Generalversammlung an einem Gutachten zur israelischen Besetzung der Palästinensergebiete – weshalb die Haager Richterinnen und Richter sich im Februar ganze sechs Tage lang die Argumente von Dutzenden Anwältinnen und Anwälten aus aller Welt anhörten.
Staaten rufen heute viel häufiger den IGH an als früher
Vertreter von Staaten wie Fidschi, Bangladesch und Bolivien waren dazu nach Den Haag gereist, um sich gemeinsam über die Politik Israels zu beklagen. Der Außenminister der palästinensischen Autonomiebehörde, Riad al-Maliki, erklärte vor dem IGH, die Richterinnen und Richter sollten in ihrem Gutachten unmissverständlich klarstellen, dass die Besatzung illegal sei, und das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung bekräftigen.
Noch gibt es dazu kein Ergebnis. Dieses Gutachten-Verfahren hat auch nicht speziell mit dem jetzigen Gaza-Krieg zu tun. Aber „das schwingt natürlich mit“, sagt der Völkerrechtler Krajewski, „das sind dieselben Richter, die da sitzen. Die hören am einen Tag dies, am nächsten Tag beschäftigen sie sich ganz aktuell mit den Bildern aus Gaza. Das kann man nicht trennen.“
Viel öfter als früher zögen Staaten nun nach Den Haag, sagt er. „Noch in den 2000er-Jahren gab es das nur zwei, drei Mal pro Jahr, höchstens. Manchmal gab es in Den Haag auch nur ein neues Verfahren pro Jahr.“ Gegenwärtig beschäftigt sich der IGH laut seiner Website mit 24 Verfahren gleichzeitig – das ist ein Rekord. Dabei geht es um sehr unterschiedliche Themen, auch um manche eher profane Querelen zwischen Staaten. „Da hat sich eine Insel im Fluss verschoben“, sagt Krajewski, „was bedeutet das jetzt für den Grenzverlauf?“
Wer die internationale Justiz nutzt, kann sie später nicht mehr als illegitim abtun
Aus der Sicht des Völkerrechtlers ist das eine hoffnungsvolle Entwicklung. „Die Staaten ignorieren die internationale Justiz nicht, sie nutzen sie.“ Wer einmal den IGH oder auch den IStGH angerufen habe, der könne sich beim nächsten Mal schlecht darauf herausreden, dieses Gericht sei doch illegitim. Dabei wüssten die Staaten natürlich, dass sie mit solchen Interventionen erst einmal nicht unmittelbar eine Veränderung bewirken. Ein Beispiel: Israels Armee ist nach Rafah einmarschiert – und hat alle Ermahnungen aus Den Haag einfach in den Wind geschlagen.
Die internationale Justiz verfügt über keine eigenen Zwangsmittel. Sie verfügt über keine Polizei, keine Gerichtsvollzieher. Aber: „Die politische Kalkulation ist eine andere“, sagt der Völkerrechtler Krajewski. „Natürlich wird Israel dadurch immer isolierter.“ Und Südafrika, das sich seit Beginn des Gaza-Krieges stark vor dem IGH engagiert, habe damit in großen Teilen der Staatengemeinschaft an Ansehen gewonnen. „In der arabischen Welt zumal, in großen Teilen Afrikas auch.“
Südafrika zeige sich damit als ein Land, das an seine eigene Geschichte anknüpft und für die Einhaltung des Rechts auch zugunsten anderer Nationen streitet – was den eigenen regionalen Führungsanspruch unterstreicht.
Die internationale Justiz sei „eine Bühne, die man mit relativ geringem Aufwand bespielen kann“, sagt Krajewski. Dazu müsse man nicht erst umständlich Bündnisse innerhalb der UN schmieden. Sondern „da reicht es, wenn im Außenministerium drei, vier Leute sagen: Das machen wir jetzt. Dann nimmt man Geld in die Hand, engagiert ein paar Top-Anwälte aus London oder Paris, die darauf spezialisiert sind. Die machen das dann für einen.“ Das sei gerade für die Staaten des globalen Südens, die etwa im UN-Sicherheitsrat nur schwach repräsentiert sind, eine gute, alternative Möglichkeit.