Justiz:Das letzte Wort

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Das Bundesverfassungsgericht hat den Anspruch, eine von der Politik völlig unabhängige Instanz zu sein. Viele Urteile aber sind hochpolitisch - und manchmal auch übergriffig? Über die schwierige Trennung zweier Welten.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Er hat es mal wieder getan, vielleicht als Abschiedsgeschenk in kritischer Verbundenheit. Das Bundesverfassungsgericht möge "auch in Zukunft kluge Zurückhaltung" pflegen, mahnte Norbert Lammert vor ein paar Wochen in der Frankfurter Allgemeinen. Ganz sicher wird man den Bundestagspräsidenten und Karlsruhe-Kritiker vermissen, wenn er im Herbst aus dem Bundestag ausscheidet. Weil er dieses große institutionelle Selbstbewusstsein verkörpert, immer nah an der Hybris. Ganz so, wie man das auch vom Bundesverfassungsgericht kennt.

Hat Lammert recht? Ist das Bundesverfassungsgericht zu politisch? Ist es überhaupt politisch? Daran haben sich schon Generationen von Urteilsexegeten abgearbeitet, entsprechend vielfältig sind die Antworten. Nur eines hat noch keiner behauptet: Dass das Bundesverfassungsgericht nur ein einfaches Gericht sei.

Hinter mancher Entscheidung mag Paternalismus oder intellektuelle Hybris stecken

Fängt man mit dem einfacheren Teil der Antwort an, kann man festhalten: Politisch ist das Gericht insofern, als es auf die Politik einwirkt. Im Januar hat es entschieden, dass verfassungsfeindliche Parteien vom finanziellen Tropf abgehängt werden dürfen. Im Mai hat es gleich zweimal über die Spielregeln im politischen Betrieb verhandelt - Informationsrechte des Bundestags, Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern. Vor ein paar Tagen hat es eine Steuer für nichtig erklärt, was den Haushalt sieben Milliarden Euro kosten wird. Und im Juli folgt das Urteil zum Tarifeinheitsgesetz, heißeste politische Ware.

Teil zwei, immer noch aus dem leichten Teil der Antwort, lautet: Das Gericht agiert nicht parteipolitisch. Gewiss, Bundestag und Bundesrat wählen die 16 Richter. Inzwischen dürfen neben Union und SPD auch Grüne und FDP Kandidaten vorschlagen. Aber Spaltungen der Senate entlang der Parteilinien sind eine Seltenheit, völlig anders als beim Supreme Court in den USA. Alle Insider versichern: Wer mit dem Parteiprogramm statt mit dem Grundgesetz in die Urteilsberatung kommt, dem schlägt die intellektuelle Kühle einer Polarnacht entgegen. Neue Richter, so sie denn überhaupt ein Parteibuch haben, durchlaufen einen Emanzipationsprozess. Um nur einen zu nennen: Ernst Benda, einst für die CDU in Regierung und Parlament, war maßgeblich an der Durchsetzung des doch eher linken Datenschutzes im Volkszählungsurteil von 1983 beteiligt; wahrscheinlich hat ihn das die Berufung zum Bundespräsidenten gekostet.

Der erste Präsident: Hermann Höpker-Aschoff bei der feierlichen Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts im September 1951. (Foto: dpa)

Aber man muss die Geschichte von Anfang an erzählen. Sie beginnt 1952, im Jahr nach der Gründung des Gerichts, mit einem beispiellosen Konflikt, zu dem man anmerken muss: Es war die Politik, die das Gericht zum willfährigen Instrument im politischen Spiel degradieren wollte. Kanzler Konrad Adenauer trieb damals die Gründung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft voran, die SPD signalisierte Widerstand. Es war klar, dass der Fall in Karlsruhe landen würde. Die Regierung fädelte also ein schlitzohriges Manöver ein, um den Fall am "roten" Ersten Senat vorbei an den als regierungsnäher geltenden Zweiten Senat zu lancieren. Am 9. Dezember 1952 wurde verhandelt, und Gerichtspräsident Hermann Höpker-Aschoff verkündete gleich zu Beginn, dass das Gericht das hinterlistige Spiel mit den Gerichtszuständigkeiten nicht mitmachen würde. Das Gericht stand einig und unabhängig. Justizminister Thomas Dehler, ein Heißsporn, schäumte. Man könne die Grundfesten des Staates doch nicht erschüttern lassen, "weil die Herren Richter ihr Maß nicht kennten". Sein Ausbruch kam in der Öffentlichkeit nicht gut an. Ein Jahr später war er nicht mehr Minister.

Dieser Gründungsmoment enthielt bereits das, worauf die Stärke des Gerichts bis heute beruht: das Vertrauen der Bevölkerung in eine von der Politik unabhängige Instanz. Auf dieser soliden Basis startete das Gericht sein großes Aufbauprojekt: die Verankerung der Grundrechte in der jungen Bundesrepublik, in der noch viele alte Nazis in Schlüsselpositionen saßen. Und die Erziehung der Bürger zur Demokratie. Beim nächsten politischen Konflikt im Jahr 1961 - beim Streit um das staatseigene Adenauer-Fernsehen - war das Gericht bereits deutlich gestärkt.

Über die Jahrzehnte hinweg war das Gericht immer wieder mit grundsätzlicheren politischen Fragen befasst. 1973 bestätigte es den Grundlagenvertrag; die Richter schwankten zwischen Zurückhaltung und Kontrollanspruch. 1975 kippte ein konservativer Senat das liberale Abtreibungsrecht. 1978 fiel die "Postkartenlösung" für eine vereinfachte Wehrdienstverweigerung - wiederum ein Spruch, aus dem eine politische Wertung klingt. Und 1994 kreierte das Gericht das Parlamentsheer.

Manches davon ist freilich kaum vermeidbaren Wertungen geschuldet, die man je nach politischer Couleur besser oder schlechter findet. Problematischer indes ist eine andere Karlsruher Eigenart: die Neigung zu detailreichen Urteilen, die ihm oft die Kritik als Ersatzgesetzgeber eingetragen haben. Illustrieren lässt sich das etwa an der Ära von Paul Kirchhof, die von 1987 bis 1999 dauerte. Der Heidelberger Hochschullehrer galt als gestaltungsfroh und durchsetzungsfähig. In einem denkwürdigen Beschluss zur Vermögensteuer von 1995 formulierte das Gericht kurzerhand den sogenannten Halbteilungsgrundsatz, eines von Kirchhofs Lebensthemen: Die Steuerlast des Bürgers müsse "in der Nähe der hälftigen Teilung" bleiben. Ein Übergriff "in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers", fand sein Kollege Ernst-Wolfgang Böckenförde - und elf Jahre später auch der gesamte Zweite Senat: Er kassierte den Halbteilungsgrundsatz etwas verschämt wieder ein. Oder die großzügige steuerliche Entlastung, eine der letzten Entscheidungen aus der Feder Kirchhofs, veröffentlicht 1999. Das war ein Stück konservativer Familienpolitik im Gewand eines Gerichtsbeschlusses voller konkreter D-Mark-Beträge, von denen man sich fragte, wo genau sie im Grundgesetz zu finden seien. Man kann den Nachhall jenes Übergriffs noch im Hartz-IV-Urteil von 2010 spüren, weil das Gericht den Fehler von damals peinlichst vermieden hat: keine Zahlen, nur Maßstäbe.

Ganz verschwunden ist die Neigung nicht. Dahinter mag fürsorglicher Paternalismus oder auch intellektuelle Hybris stecken; die Superhirne von Karlsruhe halten sich schon für sehr schlau, und meistens sind sie es auch. Aber manchmal treffen einfach gegensätzliche Welten aufeinander. Vor gut zehn Jahren wurde zur Haushaltssanierung die Pendlerpauschale auf Fernpendler beschränkt - es war einer dieser Kompromisse, wie sie für die Politik typisch sind. 2008 kassierte das Verfassungsgericht die Reform ein, weil sie nicht "folgerichtig" sei. Das sollte heißen: ganz oder gar nicht. Wissenschaftler kritisierten diesen Maßstab einer kerzengeraden Rationalität, weil sie den krummen Wegen der Politik wenig Spielraum lasse. Inzwischen, so hört man, hat das Gericht von diesem rigiden Ansatz Abstand genommen.

Und manchmal ist es schlicht Ungeduld. So dürfte es beim Urteil zu den Überhangmandaten von 2012 gewesen sein, zu dessen Vorgeschichte es gehört, dass der Gesetzgeber es schaffte, die großzügige Dreijahresfrist zur Umsetzung eines Urteils von 2008 noch zu überziehen. Da machte der Senat halt Nägel mit Köpfen. Man blickte lange und angestrengt auf Artikel 38 Grundgesetz (maßgeblich ist ein einzelner Hauptsatz) - und folgerte, dass fortan genau 15 Überhangmandate erlaubt seien. Das Urteil gehört zu Lammerts Lieblings-Reizobjekten.

Ist das Gericht nun zu übergriffig, zu politisch? Meist ist es eher die Kritik am Gericht, die politisch motiviert ist - wenn Ermittlungsbefugnisse gestutzt oder das Adoptionsrecht für Homosexuelle liberalisiert wird. Insgesamt fährt namentlich der Zweite Senat unter dem strategisch denkenden Andreas Voßkuhle (meistens) einen eher vorsichtigen Kurs. Mit einer markanten Ausnahme - Europa.

Womit man wieder beim Beginn der Geschichte wäre. Voßkuhle will das Verfassungsgericht zukunftsfest machen - nicht gegen einen Adenauer im Inneren, sondern gegen einen Bedeutungsschwund durch das EU-Recht. Der Händel mit dem Europäischen Gerichtshof über die EZB-Befugnisse, der Karlsruhe so umgetrieben hat, drehte sich um die Frage, inwieweit das Verfassungsgericht eine europäische Institution wie die EZB kontrollieren darf. Am Ende hat Voßkuhle den Fuß in die Tür bekommen. Das war nicht so grandios wie damals bei Höpker-Aschoff. Aber das Gericht spielt in Europa weiter mit.

© SZ vom 10.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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