Süddeutsche Zeitung

Justiz:Abschied mit Ausrufezeichen

Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Ferdinand Kirchhof rügt die wachsende Macht des EuGH in Luxemburg.

Von WOLFGANG JANISCH, Karlsruhe

Die Feierstunde zum Abschied aus dem Bundesverfassungsgericht ist immer für ein Ausrufezeichen gut. Noch genießt der scheidende Richter die Aufmerksamkeit des hohen Amtes, muss aber nicht mehr so zurückhaltend sein. So wollte auch Ferdinand Kirchhof nach gut elf Karlsruher Jahren den Amtswechsel zu seinem Nachfolger Stephan Harbarth - dem neuen Vizepräsidenten, der nächstes Jahr an die Spitze des Gerichts rücken soll - nicht zwischen ein paar Bach-Solosonaten verklingen lassen, sondern ein paar Worte zum großen Rivalen des Karlsruher Gerichts sagen: dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).

Kirchhofs Unbehagen galt, nicht zum ersten Mal, dem wachsenden Machtanspruch des EuGH in Luxemburg. Zum Ausdruck komme er beispielsweise im sogenannten Vorlageverfahren, bei dem nationale Gerichte eine Anfrage zur Auslegung des EU-Rechts an den EuGH stellen. "Ich werde das Gefühl nicht los, dass dieses Verfahren sich zunehmend zum Monolog entwickelt, der vom EuGH mit Autorität geführt wird." Die nationalen Belange fänden dabei wenig Beachtung, auch das Prinzip der Subsidiarität, das - wo immer möglich - eigentlich den Staaten Vorfahrt gewähren soll - werde kaum aktiviert. Hingegen werde der Vorrang des EU-Rechts auch dort eingefordert, wo es dafür keinerlei europäisches Integrationsinteresse gebe. Und die Verfassungsgerichte der EU-Staaten würden ebenfalls nicht gefragt.

Dieser lückenlose Vorrang der europäischen Regeln sollte aus Kirchhofs Sicht überdacht werden. "Es hat sich mir nie erschlossen, warum das Unionsrecht sich gegenüber einer in der nationalen Verfassung verbürgten Religionsfreiheit oder gegenüber der Freiheit von Forschung und Lehre durchsetzen soll." Gerade dort sei doch das Besondere gefragt. "Wir sollten deshalb in Europa energischer die Berücksichtigung nationaler Verfassungen einfordern." Nach Kirchhofs Worten ist das keineswegs nur eine Frage von Institutionen. "Uns fehlt zur wirklichen Union der innere Zusammenhalt der Bürger. Die Europäische Union ist für die Bürger da." Aus seiner Sicht müssten deshalb die Verfassungsgerichte der Staaten eine wichtigere Rolle spielen. "Denn die Bürger vertrauen ihren eigenen Verfassungsgerichten, Deutschland ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel." Sein Vorschlag: Es müsste ein Verbund der nationalen Verfassungsgerichte geschaffen werden, in dem sich ein gemeinsames Verständnis von europäischen Grundrechten und Rechtsprinzipien herausbildet. Und auch darüber, welche Positionen "unaufgebbar" zur nationalen Identität gehören. Also ein horizontaler Dialog, kein EuGH-Führungsanspruch von oben nach unten. "Diese unterschiedlichen Rechtskulturen lassen sich nicht auf einen Schlag durch eine vertikale Entscheidung vereinheitlichen."

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SZ vom 16.03.2019
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