Juristische Bewertung:Was im Kopf der Täter passiert

Nur wenn der Täter den Vorsatz verfolgt, eine Ethnie ganz auslöschen zu wollen, gilt dies als Völkermord. Doch: Nicht einmal der Teufel kann in den Kopf eines Menschen hineinsehen.

Von Ronen Steinke

Die Philosophin Hannah Arendt hat mit dem Massenmörder Adolf Eichmann nie ein Wort gewechselt. In Gedanken aber hatte sie sich Sätze dafür zurechtgelegt. Die Philosophin wollte Eichmann erklären, was genau an den Verbrechen der Nazis so einzigartig war, dass diese niemanden auf der Welt unerschüttert lassen konnten. Sie erklärte dem NS-Verbrecher in einer fiktiven Ansprache, die zwar nie gehalten, aber auf den letzten Seiten ihres Buchs "Eichmann in Jerusalem" abgedruckt wurde: Seine Untat sei eine gewesen, "in der sich der Wille kundtat, die Erde nicht mit dem jüdischen Volk und einer Reihe anderer Volksgruppen zu teilen, als ob Sie und Ihre Vorgesetzten das Recht gehabt hätten zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht."

Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen, schon gar nicht mit der technischen Sprache der Juristen. Der Wille, die Erde nicht mit einem Volk zu teilen - genau auf dieses Motiv kommt es an, wenn von Völkermord gesprochen wird. Genau das ist der entscheidende Punkt, um den sich jede juristische Genozid-Diskussion dreht. Hatten die Täter wirklich einen derart radikalen Plan im Sinn? Auf Opferzahlen kommt es weniger an; auch die Tötung weniger Hundert oder Tausend Menschen kann schon als Völkermord gelten, während andererseits die Tötung von Millionen - wie etwa bei Maos "Großem Sprung nach vorn" - oft kein völkermörderisches, sondern ein anderes Motiv verfolgt.

Die Massaker an den Armeniern kamen von April 1919 bis März 1920 zwar in juristischen Prozessen zur Sprache. Das Sondermilitärgericht in Istanbul zeigte allerdings aus politischen Gründen wenig Interesse an allzu harten Urteilen. Auch konnte es die juristische Kategorie des Völkermordes noch nicht zugrunde legen, weil es sie als Idee damals noch gar nicht gab.

Hatte die jungtürkische Regierung damals ein reales, aber unausgesprochenes Motiv?

Sie stammt aus den 1940ern. Nur dann, wenn die Täter den Vorsatz verfolgten, eine Ethnie ganz auszulöschen, das heißt: in die Vielfalt des Menschengeschlechts einzugreifen, hebt das ihre Tat noch einmal aus der ohnehin grausamen Masse heraus. Erst dies ist jener Tabubruch, der mit dem Wort "Völkermord" angeprangert wird. Entscheidend ist, so steht es in der Genozid-Konvention der UN von 1948, die Absicht der Täter, "eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe" auszulöschen.

Es kommt darauf an, was im Kopf der Täter passierte - das bringt es mit sich, dass die Debatte, ob ein Verbrechen ein Völkermord war oder nicht, auch unter Juristen lange schwelen kann. Der Massenmord an den Tutsi im Jahr 1994 war zweifelsfrei ein Genozid, denn da gab es das erklärte Ziel, diese Gruppe ganz zu vernichten; die Ermordung der Juden Europas im Zweiten Weltkrieg ebenso. Aber wie ist es mit den Massenmorden an Armeniern? Was war damals das vielleicht unausgesprochene, aber doch reale Motiv der jungtürkischen Regierung, die dieses Verbrechen verübte? Nicht einmal der Teufel kann in den Kopf eines Menschen hineinsehen - diese Einsicht wird dem englischen Lordrichter Alfred Denning zugeschrieben. Und an diesem Problem sind immer wieder wichtige juristische Prozesse gescheitert.

Eichmann wurde 1961 des Völkermordes schuldig gesprochen, der "Verbrechen gegen das jüdische Volk". Unter diesem Namen hatte der Staat Israel die Genozid-Definition der UN von 1948 in sein nationales Recht eingefügt.

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