Junge Europäer über Vorurteile:Ich bin anders als ihr denkt

A woman walks in front of a graffiti painted on a shop shutter, in Athens

Wie geht es weiter mit Europa? Eine Frau geht in Athen an einem Graffiti mit der Aufschrift "What's next???" vorbei. Auch unter jungen Europäern sind Vorurteile weit verbreitet.

(Foto: REUTERS)

Alle Spanier sind faul, die Griechen korrupt und Rumänen im Ausland arbeiten für die Mafia: In ganz Europa blühen die Stereotype. Sechs junge Menschen berichten, wie die Vorurteile über ihr Heimatland ihren Alltag prägen - und erzählen, was sie frustriert und was ihnen Hoffnung macht.

Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Kooperation "Mein Europa" von Süddeutsche.de mit dem Projekt FutureLab Europe der Körber-Stiftung. Bis zur Europawahl Ende Mai werden in der Serie junge Europäer zu Wort kommen - streitbar, provokativ und vielfältig.

Die Rumänin: Ich bin weder Spionin noch Prostituierte

Ich frage mich oft, was mich, außer meinem Pass, als Rumänin auszeichnet. Meine erste Muttersprache ist Serbisch, nicht Rumänisch. Ich kann keine rumänischen Gerichte kochen. Anders als die meisten Rumänen habe ich Rumänien nicht wegen der Aussicht auf ein besseres Leben in wohlhabenden Ländern verlassen. Stattdessen habe ich mich entschieden, in ärmeren, südwestlich von Rumänien gelegenen Ländern zu leben, zu studieren und zu arbeiten.

Eigentlich hätte ich es leichter haben müssen als die nach Frankreich, Belgien oder Großbritannien ausgewanderten Rumänen, die gelegentlich wegen ihrer Herkunft aus einem armen Land Osteuropas verpönt, stigmatisiert oder diskriminiert wurden und einfach nur eine zusätzliche Gruppe von Migranten in diesen Ländern bildeten.

Als junge rumänische Ausländerin in Kroatien, Serbien, Kosovo oder Mazedonien habe ich jedenfalls keine Privilegien erfahren. Dafür wurde ich diverse Male von Grenzpolizisten verdächtigt, eine Spionin oder Prostituierte zu sein. Auch die Polizei, Nachbarn und Vermieter forderten mich auf, meinen Aufenthalt in ihrem Land zu rechtfertigen. "Warum möchtest du ausgerechnet hier leben, wo doch sonst jeder dieses Land verlassen möchte?", lautete ihre ungläubige Frage. Ich habe zu hören bekommen, dass "alle Prostituierten während des Krieges Rumäninnen waren", und dass "alle Rumänen, die ich bislang kennengelernt habe, zur italienischen Mafia gehörten". Solche Aussagen haben mich nicht überrascht.

Nachdem die Polizei erfahren hatte, dass ich für eine wichtige Institution arbeite, hat sie sich für ihre Schikanen entschuldigt. Auch meine Vermieter waren schließlich der Ansicht, dass ich nur den Pass mit den rumänischen Prostituierten und Mafiabossen gemein habe. Doch werden andere Rumänen eine zweite Chance für den ersten Eindruck bekommen, frei von allen Klischees?

Doris Manu, 24 Jahre alt, macht gerade ihren Master in Südost-Europa-Studien an der Universität Belgrad.

An English version of the text is available at the website FutureLab Europe.

Die Griechin: Die alten Vorurteile rauben mir nicht die Hoffnung

Wenn ich über die heute existierenden Klischees nachdenke, dann bin ich hin- und hergerissen.

Hin: Das Leben in Athen im Jahr 2014. Das positive Image der ach so "wunderbaren" EU hat stark gelitten. Ich glaube, nicht nur hier in Griechenland, sondern in ganz Europa. "Freigeistige", proeuropäische Minderheiten diskutieren über das Ziel einer politischen EU sowie die auf ihr basierenden Werte, das Ideengut und die Möglichkeiten, die ein vereinigtes Europa bietet. Die Wahrheit aber ist, dass niemand mit dem derzeit verfolgten Kurs der EU einverstanden ist.

Zwar ist das Image der Deutschen nicht mehr ganz so schlecht, doch jeder, der über die von der "Troika" verhängten Auflagen spricht, meint in "Wirklichkeit" die Deutschen. Die Griechen fühlen sich nicht frei. Das Klischee des armen Griechen aus den 1950er Jahren, die "Syndrome" eines Bürgerkriegs, die in den Märschen der Partei "Goldene Morgenröte" beunruhigende materielle Wirklichkeit werden und die "Einzigartigkeit" des "griechischen Kämpfers, Opfers und Überlebenden" verfolgen mich.

Her: In "Europa" reisen. Die Griechen können kaum reisen, weil sie es sich schlicht nicht leisten können. Die Bewegungsfreiheit innerhalb der EU existiert nur theoretisch. Grieche zu sein bedeutet heutzutage, dass man nur schwer einen Job oder eine Wohnung findet und wenn man doch eine Wohnung mieten kann, dann unter der Bedingung, die Hälfte der Jahresmiete im Voraus zu bezahlen. Unsere Wirtschaft könnte zusammenbrechen und unser Geld ist weg.

Griechen sind faul oder sehr arm. Und korrumpiert. Ich bin Griechin, gut ausgebildet, weit gereist und ein politischer Mensch. Ich gestalte und Athen, die Stadt in der ich lebe, ist pulsierend und notgedrungen innovativ. Und sehr, sehr aktiv. Die EU, die ich mir wünsche, wird in den Städten wiedergeboren. Mit Athen ganz klar an der Spitze.

Konstantina Karydi, 30, forscht zurzeit beim griechischen Think-Tank ELIAMEP, promoviert an der Universität von Athen und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bürgermeisters von Athen.

An English version of the text is available at the website of FutureLab Europe.

Der Franzose: Ich bin Exot, nur weil ich Englisch spreche

In Frankreich bin ich ein eigenartiges Phänomen. Ich bin Franzose ... und Deutscher. Das Besondere an der doppelten Staatsbürgerschaft ist, dass ich mir der Klischees bewusst bin und weiß, wie überholt sie sind. Viele Ausländer sind verwundert, wenn ich bei der Fußballweltmeisterschaft für die deutsche Mannschaft mitfiebere. Oder wenn ich sage, dass mein Lieblingsdessert ein köstliches Stück Käsekuchen ist! Mein Hauptinteresse galt in letzter Zeit nicht der Affäre unseres Präsidenten mit einer Schauspielerin und ich streike NICHT immer, wenn ich es könnte.

Vorurteile sterben ganz langsam. Oft wird meine französische Herkunft angezweifelt, wenn ich mich auf Englisch vorstelle. Man stelle sich vor: ein Franzose, der Englisch spricht! Bist du wirklich Franzose? Aber du hast ja gar keinen Akzent? Das passiert mir ständig, es ist in Ordnung ...

Reisen ist das beste Mittel, um Vorurteile abzubauen. Reise so viel wie möglich. Dadurch erkennt man immer noch am einfachsten und besten, wie ein Volk wirklich ist. Und man wird feststellen, dass nicht alle Franzosen eine Baskenmütze haben und ihr Baguette unterm Arm tragen. Genauso wie nicht alle Deutschen Bier und Fleischwurst mögen!

Maël Baseilhac, 27 Jahre alt, hat in Montreal und Rom studiert und arbeitet nun an einer Universität in Marokko.

An English version of the text is available at the website of FutureLab Europe.

Der Deutsche: Stereotypen sind nicht nur schlecht

Sich als Deutscher zu fühlen, war mir immer fremd. Ich hatte nie das Bedürfnis, die schwarz-rot-goldene Fahne zu schwenken, bei einem Sieg der Fußball-Nationalmannschaft Wildfremden in die Arme zu fallen oder die Nationalhymne mitzusingen.

Ich definiere mich nicht über meine Nationalität, sondern über meine politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen, Werte, Gedanken und Vorlieben. Ich definiere mich über Dinge, die ich mit Freundinnen und Freunden teile, unabhängig von ihrer Nationalität.

Erst während meines Studiums in England musste ich mich mit dem "Deutschsein" auseinandersetzen. Bis dahin waren typisch deutsche Eigenschaften für mich aufgrund der NS-Vergangenheit negativ besetzt. "Du bist so deutsch" - diese Aussage empfand ich nicht als Kompliment. Doch meine englischen Freunde sahen das anders, sie meinten dies durchaus positiv. Sie wussten Eigenschaften wie Pünktlichkeit, Ehrgeiz und Zuverlässigkeit sehr zu schätzen.

Das hat auch mein eigenes Bild gehörig verändert. Ich sehe seither Stereotypen nicht mehr per se als etwas Schlechtes, sie können durchaus hilfreich sein. Zum Beispiel helfen sie, Verhalten einzuordnen. So deute ich es heute nicht mehr als Desinteresse oder Unhöflichkeit, wenn die gesamte Gruppe "mal wieder" auf einen verspäteten Italiener oder Spanier wartet. Heute weiß ich, dass dies Teil deren Kultur ist.

Lukas Brück, 24 Jahre alt, studiert Politik, Wirtschaft und Mathematik an der TU Darmstadt und ist Stadtrat in Mörlenbach.

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Der Pole: Meine Stadt ist sauber, bunt und voller junger Menschen

Ich möchte nicht nach Westeuropa ziehen und den Menschen dort die Arbeitsplätze wegnehmen: Ich bin gut ausgebildet und arbeite in einem ziemlich wettbewerbsfähigen und innovativen Wirtschaftsbereich. Hier in Polen habe ich einen gut bezahlten und anspruchsvollen Job. Mit der berühmt-berüchtigten "polnischen Wirtschaft" habe ich nichts am Hut. Dieser abwertende und auf Misswirtschaft und Unordnung abzielende Ausdruck wird noch heute von älteren Menschen benutzt. Das haben Klienten meiner Anwaltskanzlei im Umgang mit deutschen Unternehmen erlebt.

Ich lebe auch nicht in einer düsteren und unattraktiven Stadt, in der die Kriminalitätsrate hoch ist und viele Autos gestohlen werden. Posen ist sauber, recht bunt und voller junger Menschen. Es wird viel investiert und die Arbeitslosenrate ist sehr niedrig. Ich bin kein engstirniger und intoleranter Katholik. Ich bin jedem und fast allem gegenüber offen.

Ich bin einfach nur Pole.

Ich teile die gleichen Werte wie andere Europäer und ich lebe in einem normalen europäischen Land. Diesen Satz möchte ich nicht jedes Mal wiederholen, wenn ich in Westeuropa ein Auto mieten oder ein Hotelzimmer buchen möchte.

Fahrt doch einfach mal nach Polen und überzeugt Euch selbst. Doch vielleicht besser nicht jetzt. Denn es ist gerade Winter, es ist bitterkalt und die Eisbären ziehen noch immer durch die Straßen.

Sławomir Parus, 27 Jahre alt, hat in Posen sowie in Atlanta Wirtschaft und Rechtswissenschaften studiert. Heute arbeitet er als Jurist in Posen.

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Die Spanierin: Wir kämpfen mit einem Minderwertigkeitskomplex

Ich komme aus dem Süden Spaniens, der Wiege fast aller Stereotypen, mit denen Spanier heutzutage konfrontiert sind. Uns wird nachgesagt, faul und sorglos zu sein, uns keine Gedanken über die Zukunft zu machen und Schulden nicht abbezahlen zu können.

Fakt ist, dass die sozioökonomischen Bedingungen in ländlichen Gegenden sehr ungünstig sind, wenn man etwas erreichen möchte. Berufliche Ambitionen werden sehr stark von unserem familiären Umfeld bestimmt (nicht jeder kennt Oxford), und selbst wenn man ehrgeizig ist, reichen oft die Sprachkenntnisse nicht oder es gibt nicht genügend Stipendien.

Ich habe an der London School of Economics und an den Universitäten in Bristol und Granada studiert und arbeite nun als wissenschaftliche Mitarbeiterin am European University Institute. Ich habe hart gearbeitet und Entscheidungen über meine Zukunft bewusst getroffen. Doch das hätte ich ohne die Hilfe anderer Menschen, gute Ratschläge und auch eine Portion Glück nicht geschafft.

Junge Spanier haben einen Minderwertigkeitskomplex, weil sie der Meinung sind, dass ihre Ausbildung nicht mit der ihrer europäischen Nachbarn mithalten kann. Irgendwie scheinen sie sich mit diesem Minderwertigkeitsgefühl arrangiert zu haben und halten sich zugute, immerhin nicht langweilig, kleinkariert und egoistisch zu sein - doch das hilft nicht weiter. Wären die Spanier etwas kritischer in Bezug auf die Umstände, die zur Entstehung der Stereotype geführt haben (und sie nicht einfach als Fakt hinnehmen), könnten sie diese Widerstände überwinden und zu anderen Dingen übergehen.

Stereotype haben sozioökonomische Gründe. Diese Gründe zu verstehen, könnte dazu beitragen, dass Spanier (und andere Europäer) nicht mehr mit diesen Klischees behaftet werden und dass gegenseitiges Verständnis und Lernen gefördert werden.

Leticia Díez Sánchez, 26 Jahre alt, hat Europäisches Recht in Bristol sowie Politik und Verwaltung an der London School of Economics studiert. Momentan ist sie Doktorantin an der Europa-Universität von Florenz.

An English version of the text is available at the website of FutureLab Europe.

Übersetzung: Dorothea Jestädt

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