Julikrise 1914:Wie Europa in den Krieg trieb

Kaiser Wilhelm II. bei einer Parade, 1912

Kaiser Wilhelm II. (hoch zu Roß mit hellem Adlerhelm) nimmt 1912 nach der Frühjahrsparade in Potsdam militärische Meldungen von Offizieren entgegen.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

In Wien heißt es: "Serbien muß sterbien." Vor 100 Jahren sitzen in den europäischen Hauptstädten nicht gerade die fähigsten Monarchen und Politiker am Ruder. Es wird über Krieg geredet, doch keiner schätzt die Gefahren richtig ein. Ein kritischer Rückblick auf die Julikrise 1914, aus der der Erste Weltkrieg entsteht.

Von Franziska Augstein

Am 19. Juli 1914 kam der Maler Oskar Kokoschka am Wiener Südbahnhof vorbei. In einem Brief schrieb er einen Tag später: Am Bahnhof sei es "über die ganze Straße und in der Halle bis oben voll von elenden Frauen und Kindern" gewesen, "die weinend zurückgeblieben sind, nachdem die Reservisten weggefahren waren".

Das habsburgische Kaiserreich war démodé. Der Vielvölkerstaat wurde verwaltet von einer schläfrigen Bürokratie und war durchdrungen von dem wachen Verlangen einzelner Völker, sich von der Oberherrschaft in Wien zu befreien. Das war sogar einigen österreichischen Politikern bewusst.

Thronfolger Franz Ferdinand war bei Hofe und auch sonst nicht beliebt. Indes gab er eine schöne politische Leiche ab. Seine Ermordung 1914 in Sarajewo wollte Österreich-Ungarn nutzen, um an Serbien ein Exempel zu statuieren.

Da serbische Attentäter den Thronfolger am 28. Juni erschossen hatten, da das serbische Militär daran seinen Anteil hatte, trachtete man in Wien danach, das Land politisch auszuschalten, ja zu zerschlagen, auf dass sein Schicksal dem ganzen Balkan ein drohendes Beispiel sei.

Ein Staat wie ein schlecht geführtes Unternehmen

Das war der Beginn der Juli-Krise. Weil aber die k.u.k-Monarchie ein ziemlich schlecht geführtes Unternehmen war, übersahen die Zuständigen, dass die meisten Soldaten im Juli auf Ernte-Urlaub waren. Was Oskar Kokoschka am Wiener Südbahnhof erlebte, hat sich später, als der Erste Weltkrieg begann, in vielen Ländern zugetragen: Während die Intellektuellen und die Presse überwiegend begeistert waren und sich auf volksmoralisch-reinigende Stahlgewitter freuten, fragten die einfachen Leute bang, was aus ihnen werden würde.

Die Sommerpause im Juli ließ einigen Spielraum für Diplomatie. Leider waren europaweit gerade in jener Zeit nicht eben die fähigsten Politiker und Herrscher am Ruder. Die Doppelmonarchie trachtete danach, Serbien "klein zu machen", wie der Historiker Gerd Krumeich schreibt.

Es hieß: "Serbien muß sterbien."

Kurze Kriege auf dem Balkan war man aus den vergangenen Jahren gewohnt, und auch nur für so eine Expedition hatte die Doppelmonarchie die notwendigen Waffen und Soldaten. Weil man aber schlau genug war zu erkennen, dass ein Krieg mit Serbien Russland auf den Plan rufen könnte, sandte man Anfang Juli den Grafen Hoyos nach Berlin.

Am 5. Juli gab Kaiser Wilhelm II. ihm die Zusage, das Reich werde, komme was wolle, an der Seite seines Verbündeten stehen. Mit diesem "Blankoscheck" ausgestattet, fühlte Österreich sich sicher. Während Österreich sich in Wahrheit nur für einen neuen kleinen Balkankrieg bereit machte, rechnete man in Deutschland und auch in Russland mit einem größeren Krieg (hier mehr dazu). Das sollte die Doppelmonarchie teuer zu stehen kommen. Es war der Anfang vom Untergang des alten Europa.

"Mit den Serben muss aufgeräumt werden - und zwar bald!"

Alle Länder Europas - die moderne Technik war verführerisch - rüsteten in jenen Jahren auf. Im Besonderen in Deutschland, aber auch anderswo war der gängige Nationalismus in Militarismus ausgeufert. Bismarcks kluge Politik, Deutschland aus dem "scramble for Africa" herauszuhalten, galt nichts mehr. Unter Wilhelm II. wollte das Deutsche Reich seinen "Platz an der Sonne", man wähnte sich in einem darwinistischen Überlebenskampf (hier mehr über den Kaiser).

Die deutschen Eroberungen in Afrika, deutsche Demonstrationen militärischer Stärke wie der "Panthersprung nach Agadir" 1911 waren wirtschaftlich unergiebig beziehungsweise politisch fatal. Mit seiner Kolonial- und Aufrüstungspolitik hatte Deutschland es schon vor 1914 erreicht, dass die alteingesessenen Großmächte das Land für gefährlich hielten. Deutschland hatte es zuwege gebracht, dass die alterprobten Feinde Frankreich und Großbritannien sich miteinander ins Benehmen gesetzt, dass die französische Republik und das autokratisch regierte Russland ein Bündnis geschlossen hatten.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs fühlte das Deutsche Reich sich eingekreist, umlagert von Gegnern. Und das zu Recht: Das war die natürliche Folge seiner Politik. Wie Gerd Krumeich sagt, hatte das Deutsche Reich sich sozusagen "ausgekreist".

Schon vor Beginn des 20. Jahrhunderts war die deutsche Wirtschaft enorm in Fahrt. Deutschland hatte freilich das Gefühl, dass es auf den Weltmärkten nicht mitspielen dürfe. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begriff man, dass es in der heutigen Welt nicht mehr auf Landnahme ankommt, sondern darauf, die Märkte auf friedliche Weise zu dominieren.

Die russische Revolution von 1905 hatte viele Reformen gezeitigt, die zu einem stabilen jährlichen Wirtschaftswachstum von mehr als drei Prozent führten. Russland schien ein schlafender Riese zu sein. Seine Entwicklungskraft wurde damals genauso überschätzt, wie China heutzutage von vielen überschätzt wird.

Führende Köpfe des Militärs in Berlin und der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg glaubten, dass ein Krieg gegen Russland irgendwann ins Haus stehe. Und den wollten sie nun "besser jetzt als später" angehen, solange Russland noch besiegt werden könne. Österreichs Einsatz gegen Serbien betrachtete man in Deutschland als "Testfall": Würde Russland gegen das Deutsche Reich aufmarschieren?

Heutzutage nimmt es sich absurd aus, einen großen Krieg gegen eine Großmacht in Kauf zu nehmen, um herauszufinden, ob diese Großmacht so einen großen Krieg tatsächlich führen werde. Während der Julikrise 1914 aber wurde das soldatische Denken maßgeblich - allen voran des Generalstabschefs Helmuth von Moltke. Und mit diversen wütenden Kommentaren am Rand von Depeschen und Protokollen - "Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald" - fachte Kaiser Wilhelm II. die Kriegsstimmung in der Führung an.

"Ein Denken ohne Alternativen"

Wilhelm II., Alfred von Tirpitz und Helmuth von Moltke, 1912 Erster Weltkrieg

Drei Männer, die gerne über Krieg redeten: Kaiser Wilhelm II. (re.) im Gespräch mit dem Staatssekretär des Reichsmarineamts Großadmiral Alfred von Tirpitz und dem Chef des Generalstabes der Armee Helmuth von Moltke auf dem Flottenflaggschiff Friedrich der Große im Jahre 1912.

(Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Moltke wollte den Plan des Generalfeldmarschalls Alfred von Schlieffen von 1905 für einen Zwei-Fronten-Krieg umsetzen. Angesichts der französischen Rüstungsfortschritte war der freilich mittlerweile nicht mehr so recht praktikabel. Er beruhte auf der Idee, Frankreich im Nu niederzuschlagen, um sich sodann Russland zu widmen, bevor es ganz mobilgemacht habe. Alles war eine Frage der Zeit. Im diplomatischen Gewerbe ist Zeit unabdingbar.

Die ausführliche Drängelei der Militärführung, des Reichskanzlers und des Kaisers, nicht mehr lange zuzuwarten, ging auf Kosten der diplomatischen Bemühungen. Wolfgang Mommsen hat die deutsche Haltung ein "Vabanque-Spiel" genannt. Und Gerd Krumeich schreibt: "Die deutsche Krisenstrategie (. . .) war nichts anderes als eine in dieser Form noch nie dagewesene Erpressung. Die europäischen Großmächte, insbesondere Russland, sollten tatenlos zusehen, wie Österreich-Ungarn mit Serbien nach Belieben umsprang."

In Berlin bildete man sich ein, den Krieg "lokalisieren" zu können - ohne Rücksicht auf die diversen Garantien, die die Staaten einander gegeben hatten. Wenn Österreich gegen Serbien vorging, musste Russland das slawische "Brudervolk", genauer gesagt: die eigene Einflusssphäre, schützen. Russland hatte eine Allianz mit Frankreich. Großbritannien hatte Belgien zugesichert, für die Unverletzlichkeit seiner Grenzen einzustehen.

Auch Deutschland hatte sich Jahrzehnte zuvor für die Neutralität Belgiens verbürgt. Trotzdem hoffte und wähnte man in Berlin im sommerlich-warmen Juli 1914, die Briten würden den Durchmarsch deutscher Truppen durch Belgien gen Frankreich und damit die Verletzung der Souveränität des Landes tolerieren.

Großbritannien ist von Historikern wie Christopher Clark und Niall Ferguson gescholten worden. Dabei war es für den Beginn des Ersten Weltkriegs nur insofern verantwortlich, als der Außenminister Edward Grey dem deutschen Kaiserreich nicht frühzeitig im Juli 1914 deutlich mitteilte, dass sein Land eine Invasion Belgiens nicht hinnehmen werde. Hätte er es beizeiten gesagt, wäre das Kaiserreich vielleicht vor einem Krieg zurückgeschreckt und hätte mäßigend auf Wien eingewirkt.

Die deutsche Fehleinschätzung der britischen Haltung lag auch daran, dass man darauf setzte, Großbritannien habe in Irland große Probleme und im Übrigen ein Empire zu verwalten. Demselben Irrtum im Hinblick auf die britische Haltung sind übrigens später führende Nationalsozialisten aufgesessen, die meinten, Europa sei für das Empire nur peripher von Interesse: Weder den wilhelminischen Deutschen noch den Nazis war ganz klar, was aus britischer Sicht "balance of power" bedeutete.

Am 23. Juli stellte die k.u.k.-Monarchie Serbien ein Ultimatum, das absichtlich als unannehmbar konzipiert war. Nicht nur in Belgrad war man entsetzt. Gleichwohl empfahl der russische Außenminister Sergei Dmitrijewitsch Sasonow der serbischen Regierung dringend, sich möglichst zu fügen.

Binnen kürzester Zeit hatte "der rückständigste Winkel Europas", wie der Historiker Hew Strachan das damalige Serbien halb ironisch beschreibt, eine kunstvoll ausgefeilte Antwort parat: Auf alle Forderungen ging das Königreich mit unterwürfig-höflichen Wendungen ein, nur nicht auf die, österreichische Emissäre das Attentat von Sarajewo in Serbien untersuchen zu lassen - und damit die eigene Souveränität partiell aufzugeben.

Darauf hatte man in Wien nur gewartet.

Es folgten ein paar Tage hektischer Diplomatie. Umsonst hatte Britanniens Außenminister Grey am 24. Juli für die Einberufung einer internationalen Konferenz - ohne Serbien - plädiert. Kaiser Wilhelm bemühte sich, allzu spät, mit seinem Vetter, dem Zaren, ins Gespräch zu kommen. Serbien machte vom 25. Juli an mobil. Am 28. Juli erklärte Österreich ihm den Krieg.

In den "Schlafwandlern" ist eine ganz alte These neu vertreten

Russland befahl am 30. Juli die Generalmobilmachung. Anders als in anderen Ländern war das in dem riesigen Reich, das seine Truppen über große Entfernungen zusammenziehen musste, noch nicht gleichbedeutend mit der festen Absicht, Krieg zu führen. An diesem selben 30. Juli machte Russland noch einen Vorschlag, wie der Frieden bewahrt werden könne.

Dessen ungeachtet stellte das Deutsche Reich am 31. Juli ein Ultimatum: Sofern Russland die Mobilmachung nicht augenblicklich stoppe, werde es zum Krieg kommen. Die deutsche Kriegserklärung folgte am 1. August, begleitet von den Tränen des Botschafters Friedrich Pourtalès, der die Mitteilung übergeben musste.

Am 2. August marschierten deutsche Soldaten in Luxemburg ein. Am 3. August bemerkte Edward Grey, als er von seinem Londoner Büro zusah, wie auf der Straße die Laternen angezündet wurden: "Die Lampen gehen in ganz Europa aus, wir werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen."

In seiner neuen, allseits hochgepriesenen Studie "Die Büchse der Pandora" hat der Historiker Jörn Leonhard kurz skizziert, was au fond den Ersten Weltkrieg möglich machte: "Ein Denken ohne Alternativen, fast panikartige, erratische Reaktionen, eine Tendenz zum Aktionismus ohne realistische Beurteilung von mittel- und langfristigen Konsequenzen." Prestige galt mehr als Besonnenheit, außenpolitisches Großmannsgehabe war die Folge.

Man kann aus der Geschichte lernen - der Thronfolger tat es nicht

Das galt für alle Länder. Sowohl unter deutschen als auch unter englischsprachigen und französischen Historikern hat sich seit den 1970er-Jahren die Ansicht herausgeschält, das deutsche Kaiserreich trage gleichwohl etwas mehr Verantwortung als seine Nachbarn.

Es war falsch, Österreich einen "Blankoscheck" auszustellen. Es war ein Fehler, auf den Schlieffenplan zu setzen und mit dem Kalkül "besser jetzt als später" alle diplomatischen Bemühungen zu unterlaufen. "Ja, Gott", sagte Bethmann Hollweg 1918 rückblickend über das deutsche Vorgehen, "in gewisser Weise war es ein Präventivkrieg."

Der australische Historiker Christopher Clark hat unlängst in seinem Buch "Die Schlafwandler" die ganz alte These neu vertreten, dass eigentlich alle Länder einen mehr oder minder gleichen Anteil am Beginn des Ersten Weltkriegs gehabt hätten. Das kam im Besonderen in der Bundesrepublik gut an.

Der Historiker Sönke Neitzel, die Publizistin Cora Stephan und andere schlossen daraus, dass Deutschland somit keinen Grund habe, seine nationalstaatlichen Interessen hintanzustellen und sich in der EU bescheiden zu geben - als ob das nötig wäre: Deutschland hat seine Austeritätspolitik in der EU ziemlich erfolgreich durchgesetzt; noch mehr "selbstbewusstes" Auftreten wäre durchaus kontraproduktiv.

Man kann aus der Geschichte lernen.

Wer indes so argumentiert wie Neitzel und andere, könnte auch den Serben zugutehalten, dass sie zu Recht die verlorene Schlacht auf dem Amselfeld 1389 bis heute nicht verwunden hätten.

Dummerweise hatte Franz Ferdinand 1914 seinen Besuch in Sarajewo genau auf den Tag gelegt, an dem diese Niederlage sich zum 525. Mal jährte.

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