Süddeutsche Zeitung

Urteil gegen Julian Assange:"Das britische Justizsystem ist tot!"

Nach dem Gerichtsbeschluss, dass der australische Wikileaks-Gründer an die USA ausgeliefert werden darf, kündigt seine Verlobte an, in Berufung zu gehen. Das letzte Wort läge dann bei Innenministerin Patel.

Von Michael Neudecker, London

Kurz bevor drinnen der Richter, Lord Chief Justice Lord Burnett, seine Entscheidung bekanntgibt, hebt draußen ein Mann das Megafon vor den Mund, er ist als Tod verkleidet hierhergekommen, ganz in Schwarz, sogar eine Plastiksense hat er dabei. "Ich verkünde hiermit", ruft der Mann inmitten der anderen Demonstranten, "das britische Justizsystem ist tot!" Auf "tot" dreht er sich um, als wollte er das Wort mit all seiner Wut auf das gewaltige Gebäude hinter ihm schleudern, den Royal Courts of Justice, den britischen Gerichtshof in London, der mit seinen Türmen und Erkern mehr aussieht wie eine Burg als eine Behörde. Bald darauf verkündet der Richter, der Häftling Julian Assange könne vom Vereinigten Königreich an die USA ausgeliefert werden.

Das Urteil vom Freitagvormittag ist der vorläufige Höhepunkt einer langen und komplexen Geschichte, die schon seit Jahren die Gerichte und Demonstranten in London beschäftigt. Natürlich geht es längst um mehr als um das Schicksal des Häftlings Julian Assange. Es geht um die Pressefreiheit, Menschenrechte, um das Verhalten von Regierungen in westlichen Demokratien, nichts weniger. Es ist ein mit großer Spannung erwartetes Urteil, wie groß, kann man auch an der Zahl der Fernsehkameras ablesen.

Der Bereich vor dem Eingang zum Gerichtsgebäude ist gut belegt an diesem kühlen Londoner Freitagvormittag, immer wieder hupen die Busse, damit sie keinen Reporter überfahren, der mangels Platz auf die Straße ausweicht. Es sind fast so viele Kameras und Fotografen da wie Demonstranten, was aber nicht gegen die Demonstranten spricht. Schon während der zweitägigen Anhörung im Oktober sind sie hierhergekommen, um zu fordern, was sie auch jetzt permanent rufen: "Free Julian Assange", dazu immer wieder den Reim "There is only one decision - no extradition", es kann nur eine Entscheidung geben, keine Auslieferung. Als gegen halb elf durchsickert, dass die Richter das anders sehen, schreien die Demonstranten noch ein bisschen lauter.

Der gebürtige Australier Julian Assange, Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, war 2012 in die ecuadorianische Botschaft in London geflohen, um einer Auslieferung nach Schweden zu entkommen, die für ihn wohl nur der erste Schritt einer Auslieferung in die USA gewesen wäre. Schweden ermittelte damals wegen angeblicher Sexualdelikte gegen Assange, mittlerweile sind die Ermittlungen eingestellt.

"Eine Schande" sei das Urteil, sagt Assanges Verlobte

2019 dann gestattete Ecuador den britischen Behörden, Assange zu verhaften; Assange habe sich in den Mailverkehr von Diplomaten eingehackt, hieß es. Vermutlich wurde seine Position auch eher nicht dadurch begünstigt, dass Wikileaks Berichte über Korruptionsvorwürfe gegen die ecuadorianische Präsidentin unterstützte. Nach Ansicht der britischen Justiz wiederum brach Assange Kautionsauflagen, als er damals in die Botschaft flüchtete. Im April 2019 also verhaftete ihn die Metropolitan Police, einen Monat später wurde er zu 50 Wochen Haft verurteilt. Seitdem sitzt Assange im Belmarsh-Gefängnis in London.

Seit Sajid Javid, der heutige britische Gesundheitsminister, in seiner damaligen Funktion als Innenminister das Auslieferungsersuchen der USA im Juni 2019 zuließ, versuchen die USA, Assanges Auslieferung zu erzwingen. Ein britisches Bezirksgericht lehnte das zunächst ab, weil bei Assange angesichts der Gefahr, die ihm in den USA drohe, ein "bedrückendes Selbstmordrisiko" bestünde, wie die Richterin im Januar formulierte. Die USA gingen in Berufung, das Verfahren kam vor den britischen High Court. Nach den Anhörungen im Oktober befanden dort die Richter nun, eine Auslieferung an die USA sei zulässig.

In der Begründung sagte Lord Burnett am Freitag, die USA hätten zugesichert, der 50-jährige Assange werde im Falle einer Auslieferung weder vor, noch nach dem Prozess in ein Hochsicherheitsgefängnis gebracht, wo ihm Isolation drohe. Auch habe er keine Einzelhaft zu befürchten, er dürfe eine mögliche Haftstrafe in Australien absitzen, und während der Haft in den USA werde für "angemessene klinische und psychologische Behandlung gesorgt", alles immer unter der Voraussetzung, dass Assange "keinerlei Aktionen unternehme", die strengere Maßnahmen erforderten. Auf Basis dieser Zusicherungen müsse festgehalten werden, dass das Risiko, das die Richterin am Bezirksgericht noch als entscheidend befand, ausgeschlossen werden müsse. "Wären diese Zusicherungen schon früher gemacht worden, hätte die Richterin anders entschieden", sagte Lord Burnett. Im Falle einer Berufung obliege es letztlich Innenministerin Priti Patel zu entscheiden, ob Assange ausgeliefert werde.

Etwa eine Stunde nach Verkündung des Urteils tritt Stella Moris, Assanges Verlobte, vor die Kameras vor dem Gerichtsgebäude. Ein paar Demonstranten klopfen ihr mit ernstem Blick auf die Schulter, dann beginnt Moris, sie spricht lange und leise, aber ihre Botschaft ist nicht zu überhören. "Eine Schande" sei das Urteil, sagt sie, man werde selbstverständlich "zum frühestmöglichen Zeitpunkt in Berufung gehen". Die Zusicherungen der USA halten Assanges Anwälte für "vage" und "bedeutungslos". Die USA haben eine 18 Punkte umfassende Anklageschrift gegen Assange vorbereitet, sie beruht auf einem alten Spionagegesetz, im schlimmsten Fall drohen ihm 175 Jahre Haft.

"Heute wurde eine politische Entscheidung getroffen", sagt einer der Anwälte, er ballt die Faust und fügt etwas lauter hinzu: "Wir werden uns wieder sehen vor diesem Gebäude." Wann, ist allerdings völlig unklar.

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