Jugoslawien-Krieg:Der geplante Massenmord von Srebrenica

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Unendliches Leid: Immer noch werden Opfer des Massakers identifiziert - auch 20 Jahre nach dem Krieg. (Foto: Dado Ruvic/Reuters)

Matthias Fink hat das Grauen von Srebrenica im Jahr 1995 akribisch untersucht und nachgezeichnet. Seine brillante Erzählung räumt auf mit Mythen und bequemen Thesen.

Von Michael Frank

Wer hätte damals geahnt, was hinter diesen so harmlos erscheinenden Wochenendausflügen steckte. In jenen Jahren der frühen Neunziger scharten sich an Freitagen an den Busbahnhöfen von München, Wien, Frankfurt, Berlin, Zürich, Amsterdam und andernorts im näheren Mitteleuropa die Männer in dicken Trauben um jene Fernbusse in Richtung Balkan, die bisher überwiegend von Frauen mit Kindern besetzt waren, die zu Familienfeiern "nach Hause" fuhren. Jetzt aber waren das Frontkämpfer, Freischärler. Hier, im fernen Lande, friedfertig nebeneinander lebend und arbeitend, fuhren sie in die "Heimat", nach Bosnien, Kroatien, Serbien in den Wochenendkrieg. Dort schossen sie, massakrierten einander. Montags kehrten die Überlebenden an Werkbank und Wirtshaustheke, an Serviceplatz und Baustelle zurück, als wäre nichts gewesen. Und um bald wieder als Kombattanten an die Stätten des Gemetzels zu eilen, mit dem sich das zerfallende Jugoslawien aus der Geschichte verabschiedete.

Einer der schaurigsten Schauplätze dieser Katastrophe war Bosnien, ein zerfallender Vielvölkerstaat innerhalb des zerfallenden Vielvölkerstaates Jugoslawien; und in Bosnien steht der Fall der UN-Sicherheitszone Srebrenica im Sommer 1995 für den entsetzlichsten Massenmord auf dem von allen Seiten mit massenhaft Mordtaten gedüngten Konfliktfeld: mehr als 8000 kaltblütig massakrierte wehrlose bosniakische Männer und Jugendliche. Als man jüngst versuchte, dieser Ungeheuerlichkeit nach 20 Jahren würdig zu gedenken, hallte das wider von Ratlosigkeit: wie und woher Kriegsverbrechen dieses Ausmaßes im näheren Europa, trotz der ungeheuerlichen Erfahrungen mit NS-Herrschaft, Faschistenterror und Zweitem Weltkrieg?

Der Fluss der Ereignisse ist wichtiger als ihre Deutung

Der Münchner Journalist Matthias Fink hat es auf sich genommen, den Hergang der Gräuel minutiös zu dokumentieren und der Legendenbildung, die gerne auf allzu einfache Antworten setzt, entgegenzuwirken. Im Auftrag der Reemtsma-Stiftung hat er sich jahrelang in den Komplex Srebrenica vergraben, den Ablauf der Geschichte dokumentiert, hat versucht, diesen monströsen Fall zu "erzählen". So ziemlich alles, was es an glaubhaftem und obskurem Material darüber gibt, hat er zur Hand genommen.

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Jetzt liegt dieses Buch von kaum weniger als eintausend Seiten vor: eine Dokumentation, eine Studie, eine Geschichte, eine Deutung, eine Analyse? Irgendwie alles. Die große Qualität liegt darin, dass der Nachweis nahezu aller Ereignisse, die irgendeine Relevanz für dieses abscheuliche Kapitel unserer nur knapp verflossenen Gegenwart haben, wichtiger ist als ihre Interpretationen. Dass er dem Sachverhalt zunächst einmal mehr Gewicht beimisst als seiner Deutung: Der Fluss der Ereignisse spricht für sich, als selbstdeutende Basis des Geschehens, vor aller Theorie und These.

Nicht dass der Schreiber Deutungen fürchtete oder sich vor ihnen drückte. Matthias Fink macht in seiner akribischen Erörterung dieses Massenmordes mit Nebelhaftem und mit Mythen kurzen Prozess. Die bequemen Thesen vom alten "Völkerhass", von den vorgeblich unüberwindlichen Reibungen zwischen Ethnien und - noch bedeutsamer - Bekenntnisgruppen, die als niemals be- und verarbeitete historische Traumata "naturgemäß" in diese Katastrophe geführt hätten, widerlegt Fink und stellt die These auf ihre historisch schlüssigen Füße: Nicht diese alten, seit der Schlacht auf dem Amselfelde vor Jahrhunderten und im Laufe unzähliger wechselweiser Massaker kultivierten Volksmythen waren und sind Grund und Auslöser.

Die alten Ängste waren nicht der Auslöser, sondern Treibmittel

Vielmehr war das die kalte, erklärte Absicht der bosnischen Serben, im Untergang eines Vielvölkergebildes einen Kampf um Territorium zu führen, also sich Land und Boden anzueignen, auf dem die eigene Gruppe nie die Mehrheit gestellt hat. Das geht nur mit konsequenten ethnischen Säuberungen, also mit Vertreibung und Mord; um aber Vertreibung und Mord vor sich selbst und der Bevölkerung zu legitimieren, waren dann die alten, angeblich nie zu bändigenden Antagonismen zwischen den ethnischen und konfessionellen Gruppen ein beliebtes und wirkungsvolles Treibmittel. Die Kausalität, so weist Fink nach, funktioniert also umgekehrt: Eroberungs- und Säuberungsabsichten haben sich der alten Ängste und Abneigungen bedient, letztere sind das Mittel, keineswegs der Auslöser gewesen.

Apropos: Aus bosnisch-serbischer Lesart sind hier "Türken", also Muslime beseitigt worden, die nichts anderes als die "Islamisierung des Abendlandes" im Sinne gehabt hätten; wer heute glaubt, solche Ängste kultivieren zu müssen, sollte sich klar darüber sein, dass dieses Massaker von epochalem Ausmaß auch und wesentlich aus diesem Gedankengut befeuert wurde.

Verblüffend nachzuvollziehen, wie eine kleine Führungsgruppe auf bosnisch-serbischer Seite nach zwar langer gedanklicher Vorbereitung, aber doch in kürzester Zeit mit geringen Mitteln eine solch ungeheure Übeltat ins Werk zu setzen vermochte. Die oft gestellte Frage, wann das wohl "umgeschlagen" sei in die totale Barbarei, warum die serbisch-bosnische Kriegspartei gleichsam unverhofft in diesen "Blutrausch" geraten sei, ist nach Fink irrelevant: Es war letztlich alles geplant und organisiert. Und die Hauptverantwortlichen sind allesamt namhaft - die kleinen Täter übrigens, Soldaten, Sonderpolizisten, Freischärler, die geschossen und geschossen und geschossen haben, fast allesamt nicht.

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Fink lässt keinen Zweifel an der Schuld der bosnisch-serbischen Partei. Er dokumentiert das Totalversagen der Vereinten Nationen und der Staatengemeinschaft, lässt aber dennoch den niederländischen UN-Soldaten, die Srebrenica der serbischen Soldateska kampflos überließen, Gerechtigkeit widerfahren: Er weist nach, dass trotz aller Fehleinschätzungen und Vorurteile auch diese letztlich demoralisierte und ausgehungerte Truppe von Blauhelmen im entscheidenden Augenblick kaum mehr wirklich die Möglichkeit zur Gegenwehr hatte; dass sie gar kein ausreichendes Mandat für beherztes Eingreifen hatte; dass sich die UN-Kommandanten irgendwann nur noch für die Rettung der eigenen Truppe und nicht mehr für Srebrenica, seine Bewohner und Verteidiger interessierten. Und er verschweigt nicht die Gräuel, die auf das bosniakische Konto gehen, ein in der Dynamik des Entsetzens nicht unerhebliches Element. Und er deutet die Beteiligung und/oder Verwicklung des Staates Serbien-Montenegro - damals noch Restjugoslawien - weit differenzierter, als es die heutige Oberflächengeschichtsbetrachtung gerne hätte.

Die fürchterlich banale Kette des Entsetzlichen

Fink thematisiert ebenso ausführlich das Versagen der bosniakischen Staatsführung, die nichts dafür getan hat, um im entscheidenden Augenblick den tödlich Bedrohten von Srebrenica zu Hilfe zu kommen. Das Geschehen hat die Wucht der ganz großen Tragödie, wie innerhalb der Entscheidungsebenen des Militärs und der nationalen und internationalen Politik eine Fehleinschätzung in die andere mündet, bis eine Fehlentscheidung die andere gebiert und so in den Massenmord führt. In unseren Zeiten heftiger Flüchtlingsdebatten erweist sich dieser monumentale Exkurs über Eroberung, Flucht, Vertreibung, Mord und Vernichtung wie eine Lupe für das Schicksal Hilfesuchender auch aus ganz anderen Weltgegenden.

Wiewohl Fink journalistisch beschreibt, begreift er seine Arbeit als Studie mit dem Anspruch auf gewisse Vollständigkeit. Er beschreibt wieder und wieder minutiös den Hergang, auch wenn Ereignisse sich dem Charakter nach zu wiederholen scheinen. Fast eintausend Seiten, angefüllt mit Unmenschlichem, mit Versagen und Arroganz im Kriegs- und Mordgeschehen - sind die nicht eine Last, vor der sich die Leser fürchten müssten? Und wie den Überblick behalten?

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Kommentar von Nadia Pantel

Matthias Fink war über Jahrzehnte einer der brillantesten außenpolitischen Reporter des Bayerischen Hörfunks. Die wertvolle Routine des Rundfunkjournalisten kommt nun dem Leser zugute: Rundfunkleute wissen, dass es wichtig ist, dem Hörer die Bezugs- und Angelpunkte einer Geschichte wieder und wieder aufzurufen, damit der Sinnfaden im Kopf nicht reißt.

Im gedruckten Wort gilt diese Redundanz vielen als Kunstfehler. Fink hat sich angesichts der Masse an Information und Detail zum Glück dieser Methode als einer Tugend erinnert, baut durch ständige hilfreiche Rückgriffe eine Art Geländer, an dem man sich durch dieses uferlose Inferno hangeln kann. Diese fürchterlich banale Kette des Entsetzlichen, wie relativ eingegrenzte, auf engem Raum ersonnene und exekutierte Taten zu unbegreiflicher Monstrosität anschwellen, kann beim Leser eine für diesen selbst höchst befremdliche Faszination auslösen: nämlich noch das letzte grässliche Detail dieser unglaublichen Passion erfahren zu wollen. Und so liest man weiter, weiter, weiter. . . Wie aber, fragt man sich irgendwann, hat der Autor selbst die Befassung mit so viel konkretem Unheil über Jahre ausgehalten?

© SZ vom 04.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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