Ehemaliges Jugoslawien:Mit Feindbildern und der eigenen Wahrheit

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Als wäre nichts gewesen: Blick auf Sarajevo von einer neu gebauten Seilbahn aus. (Foto: Elvis Barkukcic/AFP)

Die Zeit hat die Kriegswunden im früheren Jugoslawien nicht geheilt; die ethnischen Mauern sind vielerorts sogar verstärkt worden. Der Journalist Cyrill Stieger macht das mit feinen Alltagsbeobachtungen beklemmend sichtbar.

Von Jens Schneider

Wer hätte gedacht, heute vor dreißig Jahren, dass Sarajevo einmal so in Vergessenheit geraten könnte? Die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, die 1425 Tage lang belagert wurde, Anfang der Neunziger im vergangenen Jahrhundert. Kein Tag verging damals ohne erschreckende Nachrichten, ob nun aus der Hauptstadt oder einer der sogenannten Schutzzonen der Vereinten Nationen, die keinen Schutz boten für die Menschen, die sich in die Obhut der UN-Blauhelme begeben hatten. Tausende Opfer forderte dieser Krieg, noch mehr Menschen wurden aus ihren Heimatdörfern und -städten vertrieben. Damals hätte man sich kaum ausmalen können, wie schnell die Welt nach dem 1995 erzwungenen Friedensschluss von Dayton den Blick abwandte und versäumte zu fragen, wie es dort weiterging.

Der Schweizer Journalist Cyrill Stieger ist nun in Städten und Regionen in Bosnien, Kroatien, Serbien und Kosovo der Frage nachgegangen, wie die Menschen der verschiedenen Volksgruppen nach den Kriegen zusammenleben. Stieger war von 1986 bis 2015 Balkankorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Er gibt in seinem feinen Buch "Die Macht des Ethnischen" zumeist kurze Eindrücke wieder, stets um Genauigkeit und Zurückhaltung bemüht. Es geht nicht um ein generelles Urteil, genau das wäre auch ein falscher Ansatz. Stieger sammelt und analysiert oft unspektakuläre Impressionen aus dem Nachkriegsalltag. An den Orten, die Stieger besucht, geht alles seinen geregelten Gang. Gerade deshalb wirken viele seiner so anschaulichen Beobachtungen doch beklemmend.

Die Zeit scheint vielerorts stillzustehen

Niemand fuchtelt da mit Waffen herum oder raunt, dass der nächste Krieg bevorstehe. Die Kriege sind vorbei, die Waffen ruhen. Aber die Zeit scheint vielerorts auch stillzustehen. Das Gegeneinander und der Hass von einst sind zu festen Feindbildern geronnen, bestenfalls in ein Nebeneinander transformiert, bei dem das Trennende betont wird. Da werden Schülerinnen und Schüler verschiedener Volksgruppen getrennt unterrichtet und mit unterschiedlichen Lehrbüchern in gegensätzliche Weltbilder eingeführt, obwohl sie doch Nachbarn sind.

Anhänger der Vergangenheit: Gedenken an Titos Partisanenkrieg gegen die NS-Besatzer am Berg Igman bei Sarajevo, Ende Januar 2022. (Foto: Elvis Barkukcic/AFP)

Stieger beschreibt ein Nebeneinander von gegensätzlichen Geschichtsbildern der Ethnien, bei dem stets die andere Seite Schuld auf sich geladen habe. Es ist eine Hypothek für das Zusammenleben auch jener Generationen, die den Krieg nicht erlebt haben. Diese Praxis der selektiven Erinnerung folgt einem tragischen Muster, das seit einer Ewigkeit in der Region fatale Folgen hat und auch die Erzählungen in den Kriegen vor drei Jahrzehnten prägte. Verlässlich fand jede Kriegspartei stets Gründe für die eigenen Taten in tatsächlichen oder vermeintlichen Untaten des Gegners, selbst wenn die viele Jahre zurücklagen.

Das Besondere an Stiegers Recherche ist, dass er sich wenig mit den nationalistischen Anführern aufhält, für die das Beharren auf die Abgrenzung gegen andere Volksgruppen das politische und persönliche Geschäftsmodell ist. Solche Profiteure der ethnischen Trennung gibt es zuhauf, gerade macht der bosnische Serbenführer Milorad Dodik sich wichtig und der internationalen Gemeinschaft Sorgen. Interessanter sind die Schuldirektoren oder Lokalfürsten, Lehrerinnen und Erzieher, denen Stieger begegnet und die oft aufrichtig meinen, das Beste zu wollen, und sei es, um die Identität ihres Volks zu schützen.

Intensiv schildert er den absurden Aufwand, der in Bosnien-Herzegowina betrieben wird, um aus der einstmals gemeinsamen serbokroatischen Sprache drei zu machen. Da sollen stets die Bosniaken, die Serben und die Kroaten gleichermaßen zu ihrem Recht kommen, was bedeutet, dass von offiziellen Papieren stets drei Versionen gedruckt werden, fast gleichlautend, in ihren keineswegs besonders unterschiedlichen Sprachen. Nicht wenige Bürger finden das lächerlich, schreibt Stieger in diesem traurig-amüsanten Kapitel. Im ganzen Land kursierten Witze über diese oft groteske "sprachliche Verdreifachung", nur habe das kaum etwas an der Praxis geändert.

Nicht nur vom Hass getriebene Nationalisten

"Wir haben unsere Wahrheit, sie haben ihre Wahrheit", lautet ein bestimmendes Zitat über die unvereinbaren Geschichtsbilder der Kroaten und Serben Jahre nach dem Krieg in Kroatien. Stieger stellt die Erkenntnisse über das tatsächliche Geschehen dagegen. Und er beschreibt die Anstrengungen von Historikern aus der Region, die sich den Zerrbildern entgegenstellen und etwa Schulbücher aufrichtig und wahrhaftig gestalten wollen.

Schon zu Kriegszeiten lag ein Fehler darin, im früheren Jugoslawien nur von Hass getriebene Nationalisten zu sehen. Viele dort litten an einem Krieg, der nie der ihre war. Auch heute stellt Stieger fest, dass die Menschen unabhängig von ihrer ethnisch-nationalen Zugehörigkeit vor allem die Wut eint über korrupte Machenschaften von Politikern und der Wunsch nach Arbeit und einem besseren Leben. Er begegnet auf seiner Reise vielen, die friedlich zusammenleben wollen und für alles verachtete Provinzpolitiker verantwortlich machen.

Cyrill Stieger: Die Macht des Ethnischen. Sichtbare und unsichtbare Trennlinien auf dem Balkan. Rotpunkt-Verlag, Zürich 2021. 224 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Solche Beteuerungen hörte man auch Anfang der Neunziger oft in Jugoslawien. So zutreffend sie gewesen sein mögen, die Kämpfe verhinderten sie nicht. Heute ändern sie nichts daran, dass die nationalistische Nomenklatura das Land wie eine Geisel hält und viele junge Leute nur die Perspektive darin sehen, ihr Land zu verlassen.

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