Jugendliche in Thüringen:Leichter leben ohne Illusionen

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Sie sind rational, bodenständig und ein wenig ängstlich: Drei junge Erfurter stehen vor dem Ende ihrer Schullaufbahn. Jetzt planen sie ihre Zukunft.

Felix Berth

Wenn sie Visionen hätten, würden sie wahrscheinlich zum Arzt gehen. Wenn sie das Wort Utopie hören, denken sie an den Staatssozialismus und seine Heilsversprechen, die sie nüchtern "Illusionen" nennen. Und wenn sie sich entscheiden müssen, welches historische Datum sie für wichtiger halten - den 11.9.2001 oder den 9.11.1989 -, dann ist ihre Antwort eindeutig: Den 9.November. Denn "die Nachwehen der DDR haben auf uns doch größeren Einfluss als der Anschlag von New York", wie Robert sagt.

Noch gehen sie zur Schule, doch schon bald möchten die drei jungen Erfurter studieren. (Foto: Foto: AP)

Ortstermin in Erfurt. Ein knappes Jahr vor ihrem Abitur erzählen drei Gymnasiasten von ihren Perspektiven, ihren Überzeugungen und ihren Unsicherheiten. Sie gehören zu einer Generation der Pragmatiker, und manche der Gleichaltrigen reden im Alter von 18, als wären sie schon 38. "Traurige Streber" nannte sie neulich ein Autor im Feuilleton der Zeit: Den jungen Erwachsenen mangle es an Idealismus, Aufsässigkeit, Begeisterung.

Wer Robert, 18, Pauline, 17, und Lisa, ebenfalls 17, kennenlernt, trifft keine jungen Revolutionäre, die permanent gegen Eltern und Lehrer und für eine bessere Welt kämpfen. Ihnen fehlt der Zorn, das Pathos, das Aufbegehren gegen die Welt der Älteren. Doch ist das ein Problem dieser Generation - oder zeigen sich darin vielleicht auch ein paar ihrer Stärken?

Jugendliche haben ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern

Ein Gespräch mit den drei Erfurtern über Sicherheit und Unsicherheit im Jahr 2009 beginnt wahrscheinlich am besten mit der Frage nach ihren Eltern. Sozialwissenschaftler stellen stets fest, dass drei Viertel der Jugendlichen heute sagen, ihr Verhältnis zu Müttern und Vätern sei gut.

Hinter dieser drögen Erkenntnis verbergen sich freilich Geschichten wie die von Robert, der neulich dem Vater seine erste Freundin vorgestellt hat - Pauline. "Mein Vater hat es um Mitternacht erfahren, dann hatte er eine halbe Stunde Zeit, sich drauf einzustellen." Um 0.30 Uhr kam Pauline vorbei, traf den Vater, der schon im Pyjama herumsaß und sie begrüßte, herzlich, freundlich, entspannt. "Es war cool", sagt Pauline. Sie selbst hat ein paar Wochen länger gewartet, bis sie das Geheimnis ihren Eltern offenbarte, aber auch die reagierten gelassen.

Die Familie dient als Rückzugsort

Eine heile Welt erleben sie zu Hause nicht; zwei der drei Elternpaare sind seit langem getrennt. Trotzdem sehen Robert, Pauline und Lisa ihre Eltern als Unterstützer: "Die geben mir Sicherheit in allem", sagt Pauline. "Wenn ich schlecht in der Schule wär', wenn ich mich von Robert trennen würde und seelisch total fertig wär', würden sie mich stützen." Reibung mag es manchmal geben, doch die drei scheinen ein Gespür dafür zu haben, dass Reibungsverluste auch Verluste sind: Wenn man die eigenen Eltern nicht bekämpfen muss, lebt es sich leichter.

Vielleicht braucht man, um die Unsicherheiten des Erwachsenwerdens gut auszuhalten, eine gewisse Grundausstattung, die psychische und materielle Komponenten einschließt. Robert, Pauline und Lisa wirken so, als seien sie da ganz gut gerüstet. Arbeitslosigkeit kam in ihren bürgerlichen Erfurter Familien nur am Rande vor; sie leben in einer einigermaßen stabilen Welt: "Es ist schon möglich, dass meine Eltern mich finanziell unterstützen", sagt Pauline.

Und der Halt in einem als hilfreich empfundenen Elternhaus lässt zwar die Zukunft nicht paradiesisch wirken, doch verliert sie auch den Schrecken, den sie für andere Jugendliche haben kann. "Ich mag meine Mama, ich hab' sie lieb", sagt die 17-jährige Lisa, und es klingt so echt, wie ein Liebesschwur nur sein kann.

Lesen Sie weiter, was die drei Erfurter von westdeutschen Jugendlichen unterscheidet.

Was den drei Erfurtern fehlt, ist die Selbstüberschätzung, die zum Beispiel bei westdeutschen Achtundsechzigern so ausgeprägt war: Damals musste jede Veränderung - egal ob in Politik oder Sexualität - mindestens eine "Revolution" sein; kleiner ging es nicht. Robert, Pauline und Lisa dagegen scheuen großen Worte und hitzige Gesten. Wenn sie über die Zukunft reden, geht es nicht um Utopien, sondern um das Machbare: Was studiere ich, welchen Job mache ich danach, wann kriege ich Kinder?

Zum Beispiel Robert. Ein exzellenter Schüler, der gerne Filme macht. Seine Freundin Pauline hofft, dass er Regisseur wird und irgendwas Passendes studiert. Die Eltern haben ihm neulich eine Kamera gekauft; das Gerät mit all seinen Möglichkeiten fasziniert ihn. Doch seine Eltern sind Ärzte, wie schon drei seiner Großeltern. "Also werde ich wahrscheinlich Medizin studieren und nebenbei Filme machen." Seine Eltern, sagt Robert, würden ihn auch unterstützen, wenn er etwas anderes machen möchte - "aber sie haben ja nicht unrecht, wenn sie mir Medizin empfehle." Es ist auch eine Entscheidung für Sicherheit in einer unsicheren Welt: "Da drückt sich auch etwas Sorge aus", sagt Robert vorsichtig.

Zu weit von zuhause sollte die Uni nicht weg sein

Zum Beispiel Pauline. Dass sie nach dem Abitur an die Uni will, ist gewiss. "Meine Eltern lassen mich wählen", sagt sie, "aber wenn ich Friseurin werden möchte, würden sie sagen: Nee, mit deinem Abitur machst du etwas anderes." Dass sie Erfurt verlassen wird, ist längst klar, aber zu weit entfernt sollte ihre Universität auch nicht sein: nicht im fernen Hamburg oder gar im Ausland, aber auch nicht im nahen Jena.

"Die Fahrt sollte in zwei bis drei Stunden zu schaffen sein", sagt Pauline, und ihre Freunde nicken. Nach dem Examen freilich, so überlegt sie heute, wird sie bestimmt nach Erfurt zurückkehren, was wahrscheinlich zeigt, wie viel Sicherheit ihr das Elternhaus gibt. "Ich bin dann mal weg - aber bald wieder da", ist das Motto ihrer akademischen Pläne.

Zum Beispiel Lisa. Auch sie plant ein Studium, etwas Pädagogisches wahrscheinlich. Dass sie danach vielleicht nur unsichere Jobs findet, dass sie möglicherweise diverse Praktika macht, bis sie eine Stelle bekommt - das alles ist heute noch nicht von Bedeutung. Die Wirtschaftskrise? Die Rentenerhöhungen des vorigen Sommers, die zu Lasten der später Geborenen gehen? Die steigende Arbeitslosigkeit der Jüngeren? Für die drei Erfurter sind das eher unwichtige Fragen. "Man macht sich vielleicht ein bisschen blind, weil man gar nicht so genau wissen will, wie viele Milliarden der Staat derzeit wofür ausgibt", sagt Lisa.

Früh Kinder bekommen ist nichts ungewöhnliches

Eines eint die drei Erfurter: ihr Kinderwunsch. "Mit 26 sollte man schon Kinder haben", überlegt Robert, doch Lisa und Pauline schauen skeptisch: "Das ist zu spät", sagen beide - aus ihrer Sicht ist man mit Mitte zwanzig fürs Kinderkriegen beinahe zu alt. Die Jungs und Mädchen aus ihrer Klasse würden genauso antworten: Dass man früh Kinder bekommt und dafür nicht unbedingt im Beruf etabliert sein muss, war schon zu DDR-Zeiten üblich; dieses Muster hat sich - zur Verblüffung mancher Sozialwissenschaftler - erhalten.

Wie ungewohnt solche Kinderpläne für Westdeutsche klingen, zeigt die verblüffte Reaktion einer Mitschülerin. Theresa, die in München aufwuchs und nach einem USA-Aufenthalt ihrer Familie nun nach Erfurt gezogen ist, fällt fast vom Stuhl, als sie hört, wie früh ihre Mitschüler Robert, Pauline und Lisa Kinder haben möchten.

"Das überrascht mich voll", sagt sie. "Ich finde, man sollte mindestens sein Studium abgeschlossen haben." In diesem Moment zeigt sich, dass Gefühle von Sicherheit und Unsicherheit in Ost und West nicht immer identisch sind: In der alten Bundesrepublik trägt die Kinderfrage eher zur Verunsicherung der jungen Erwachsenen bei - auf ein solches Abenteuer lässt sich nur ein, wer sonst meint, sein Leben im Griff zu haben. Im Osten vermitteln Kinder eher das Gefühl von Sicherheit: "Wenn man jung ist, schafft man das leichter", sagt Lisa, "und dann ist es auch nicht so wichtig, ob man mit seiner Karriere schon ganz weit gekommen ist."

© SZ vom 25.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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