Jugendliche:Alibifrauen

Der Journalist Thomas Kerstan hat einen Bildungskanon entworfen. Dazu gehören Bücher wie Videospiele, Musik und Gemälde ebenso wie Fotos und Youtube-Videos. Seine Auswahl regt zum deutlichen Widerspruch an.

Von Dorion Weickmann

Kein Zufall, dass sich Thomas Kerstan überschwänglich für die "engagierte, sachkundige und streitlustige" Arbeit seiner Lektorin bedankt. Die Frau muss ganz schön gelitten haben. Auf gut 200 Seiten exemplifiziert der langjährige Zeit-Redakteur "Was unsere Kinder wissen müssen". Dabei bleiben die Herren unter sich. Genau acht von hundert Positionen in Kerstans "Kanon für das 21. Jahrhundert" sind weiblich besetzt. Das nennt man eine patriarchale Veranstaltung comme il faut und eine vertane Chance. Das verzopfte Konzept beruht auf der Annahme, dass die "stilprägenden, typischen, populären Werke der Vergangenheit vorwiegend von Männern stammen". Ob diese Einschätzung etwas mit Wahrnehmungsmustern zu tun hat, interessiert Kerstan nicht. Klar aber ist: Wenn James Joyce zu den Top 100 zählt, darf Virginia Woolf nicht fehlen; Hilary Mantels historistische Erzählkunst kann es durchaus mit Stefan Zweigs Biografistik aufnehmen; und ob Chuck Berry wirklich bedeutender war als Ella Fitzgerald, darüber lässt sich trefflich streiten.

Buchcover für Politisches Buch ET 22.10.2018

Thomas Kerstan: Was unsere Kinder wissen müssen. Ein Kanon für das 21. Jahrhundert. Edition Körber, Hamburg 2018. 256 Seiten, 20 Euro.

Selbst die Auswahl aus dem männlichen Werkkosmos, die auch bei den Lesern der Zeit eine erregte Debatte auslöste, wirkt recht beliebig. Bahnbrechende Filme wie Stanley Kubricks "2001 - Odyssee im Weltall" oder "Blade Runner" werden zugunsten gehobener Unterhaltungserzeugnisse wie Oliver Stones "Wall Street" unterschlagen. Zudem klaffen in der Gesamtarchitektur erstaunliche Lücken. Keine Spur von Baukunst, Tanz oder Mode - muss man über Palladio, Ballett und Coco Chanel im 21. Jahrhunderts so gar nichts wissen?

Blick ins Buch

Immerhin gliedert der Autor seine Hitliste angenehm übersichtlich in ästhetische, sprachliche, historische und mathematisch-naturwissenschaftliche Kategorien und stellt die Werke bündig vor. Aber da er nun mal digital sozialisierte Millennials für analoges Wissen begeistern will, hätten mehr Pfiff und weniger Paternalismus nicht geschadet.

Thomas Kerstan: Was unsere Kinder wissen müssen. Ein Kanon für das 21. Jahrhundert. Edition Körber, Hamburg 2018. 256 Seiten, 20 Euro.

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