Süddeutsche Zeitung

Kindeswohl:Eine Inobhutnahme darf kein zufälliges Schicksal sein

Immer häufiger trennen Ämter Alleinerziehende, die Hilfe suchen, vom Nachwuchs - oft wegen einer vermeintlich zu "symbiotischen" Mutter-Kind-Beziehung. Eine Reform muss diesen Trend bremsen.

Kommentar von Edeltraud Rattenhuber

Für das neue Jahr plant die große Koalition eine Reform der Kinder- und Jugendhilfe. Der Schutz der Kinder und die Unterstützung von Familien sollen Priorität bekommen. Unbedingt in den Blick genommen werden muss dabei, warum die Zahl der Inobhutnahmen in den vergangenen Jahren so stark gestiegen ist. Aufhorchen lässt vor allem die hohe Zahl von Kindern, die alleinerziehenden Frauen weggenommen werden mit der Begründung, die "symbiotische" Beziehung der Mutter zu ihrem Kind schade dessen Wohl. Abgesehen davon, dass der Begriff "Kindeswohl" ein ungeschützter Begriff ist, in den alles hineininterpretiert werden kann: Was genau heißt "symbiotisch"?

Eine echte Symbiose kann tatsächlich schlimme Folgen haben. Doch laut Psychologen ist so eine Diagnose in Kinderschutzfällen ein Label ohne klare Aussagekraft. Meist wird sehr schnell entschieden, das Kind aus der Familie zu nehmen. Eine eingehende Untersuchung von Müttern und Kindern ist daher gar nicht möglich. Und Gutachter, auf die sich das Familiengericht anschließend stützt, haben oft nicht die Qualifikation, um schwere Erkrankungen festzustellen. Dennoch reichte die Diagnose "symbiotisch" aus, um Gerichten eine Trennung nahezulegen. Anzeichen von Gewalt oder Vernachlässigung bei den Kindern? Gab es nicht.

Das widerspricht der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, das eine Inobhutnahme als "stärksten Eingriff gegen das Elternrecht" nur nach "schwerwiegendem Fehlverhalten" der Eltern und bei einer "erheblichen Gefährdung des Kindeswohls" für berechtigt erklärt hat.

Frauen, die allein für ihr Kind sorgen, tragen große Verantwortung. Sie sollten daher auch auf die Unterstützung der Gesellschaft bauen können. Traumatisierende Trennungen sind kontraproduktiv.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die meisten Jugendamtsmitarbeiter leisten gute Arbeit und setzen sich für Familien ein, wo es nur geht. Nach schweren Versäumnissen aber greifen die Ämter nun schneller ein, die Zahl der Inobhutnahmen stieg kontinuierlich. So nehmen Normalbürger die Jugendamtsarbeit vor allem in Extremen wahr: Hier ein laxer Umgang mit Schutzbedürftigen wie in Lügde, dort ein rigoroses Einschreiten wie bei den Alleinerziehenden. Rechtsanwälte kritisieren seit Langem das unzureichende Verfahrensrecht und die ebenso unzureichende Amtsermittlung und fordern verpflichtende psychologische Schulungen für Familienrichter. Diese delegieren ihre Bewertung meistens an den Gutachter und das Jugendamt. Seine Einschätzung wird vor Gericht damit quasi unanfechtbar.

Doch eine Inobhutnahme darf kein zufälliges Schicksal sein. Seit Monaten werden vom Mainzer Institut für Kinder- und Jugendhilfe "hochproblematische Kinderschutzverläufe" gesammelt. Dessen Erkenntnisse legen nahe, wie wichtig die Einrichtung von unabhängigen Ombudsstellen wäre. Betroffene müssen Anlaufstellen bekommen, bei denen sie sich beschweren können. Denn das Misstrauen gegenüber Jugendämtern ist groß. Im Internet ist schon von "Kinderklau" und staatlicher Alimentierung von Heimen die Rede. Verschwörungstheoretiker haben hier leichtes Spiel. Um Vertrauen wiederherzustellen, ist eine echte Reform dringend nötig.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2019
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