Süddeutsche Zeitung

Jüdisches Leben in Warschau:Narben aus Bronze

Bevor die Nazis kamen, war Warschau ein bedeutendes Zentrum jüdischen Lebens. Zwischen unsauber vernarbten Wunden erlebt Polen heute eine jüdische Renaissance - wie das Beispiel zweier junger Menschen zeigt.

Reportage von Nadia Pantel, Warschau

Die Außenhaut des Gebäudes verspricht die Zukunft: weißer Putz und makelloser Stuck auf eine riesige Plastikplane gedruckt. Investorenträume in Warschau. Nur der schmuddelige Fuß des Hauses schaut noch heraus. "Hier war das Ghetto", sagt ein Graffito auf Polnisch und Hebräisch. Doch das stimmt nicht ganz. Das Ghetto, in dem die Nationalsozialisten Warschauer Juden verhungern ließen, liegt vier Kilometer weiter nördlich.

Hier, in der Ulica Próżna, nicht weit vom Hauptbahnhof, war das Zentrum des jüdischen Lebens, lange bevor es ins Ghetto abgeschoben wurde. "Lass uns hinten rum gehen, da ist ein Loch in der Absperrung" - Aleksander Prugar winkt seine Freundin Helena Czernek von der vergitterten Toreinfahrt weg. Sie nimmt den Rucksack mit Taschenlampe und Werkzeug und folgt ihm.

Warschau war das bedeutendste Zentrum jüdischen Lebens

Hinter dem Bauzaun liegt die Vergangenheit. Prugar und Czernek gehen immer nur einzeln das Treppenhaus hoch, sie sind sich nicht sicher wie viel Gewicht die Stufen noch tragen. Unter den Schritten knirschen die Schichten der letzten Jahre: Schutt und Scherben, manchmal raschelt eine liegen gelassene Zeitschrift. Doch was die beiden suchen, liegt viel weiter zurück als die letzten Trinkabende von ein paar Wohnungslosen. Sie suchen die Spuren der jüdischen Familien, die bis 1940 hier lebten.

Prugar kratzt gelbe Lackschichten von einem Türrahmen. "Verdammt! Hier! Siehst du?" Helena leuchtet ihm, sie sieht es auch. Zwei kleine Nägel zwischen denen eine Vertiefung liegt. Hier war einmal eine Mesusa befestigt, ein Ausschnitt der Tora, auf einem klein zusammengerollten Papier. Wer hier wohnte, hoffte, dass Gott ihn und sein Haus beschützen möge. An der Eingangstür, an drei der Türen im Flur: An jeder Stelle, die Prugar untersucht, findet er Nägel oder kleine Löcher im Holz. "Großartig", flüstert er. Und beginnt, ein Mini-Labor aufzubauen.

Seine Freundin und er sammeln Mesusa-Spuren. Eine Flasche Wasser und ein Sack Pulver, schnell zu einer lila Paste zusammengerührt. Schwungvoll und mit bloßen Händen schmiert Prugar die Paste auf den Türrahmen. Wenn sie hart wird, wird sie einen genauen Abdruck der Mesusa tragen, den die beiden in Bronze gießen lassen. Oben und unten an den Bronzeabdruck kommen kleine Ösen, um den Abguss an einem Türrahmen zu befestigen. Eine neue Mesusa entsteht. Prugar und Czernek verkaufen sie in ihrem Online-Shop. Sie werden "der Anfang von etwas Neuem sein", sagt Czerneck.

Drei Millionen Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen. Warschau war, nach New York, das bedeutendste Zentrum jüdischen Lebens. Ein Drittel der Bewohner der Stadt waren Juden. 1945 hatten die Nazis die jüdische Gemeinde Polens auf 200 000 Menschen zusammengemordet. Wer die deutschen Ghettos und Vernichtungslager überlebt hatte, wanderte aus. Oder begann über seine jüdische Identität zu schweigen.

Als das sozialistische System 1989 in sich zusammenfiel, waren die jüdischen Gemeinden ihm längst vorausgegangen. 1968 schloss die sozialistische polnische Regierung unter Władysław Gomułka alle Juden aus der Partei, den öffentlichen und akademischen Ämtern aus. Die Argumentation war altbekannt: Die Juden seien zionistische Aufrührer, die den Frieden störten. Gut 20 000 Juden wanderten daraufhin aus.

Mitten in diesem Vakuum, mitten zwischen den unsauber vernarbten Wunden, feiert Polen heute eine jüdische Renaissance. Jüdische Kulturfestivals im ganzen Land, koschere Restaurants, populäre Klezmerbands, jüdische Schulen. Und Polens Oberrabbiner, Michael Schudrich, erzählt stolz, dass die jüdische Gemeinde in Polen wächst, während das Durchschnittsalter der Mitglieder sinkt. Junge Menschen, die unhinterfragt katholisch aufgewachsen sind, beginnen ihre Familienbiographien zu studieren. Sie finden jüdische Großeltern, Onkel, Tanten, über deren Geschichten nie jemand sprach.

Zwei dieser jungen polnischen Juden Polen sind Czernek und Prugar. Sie ist 29 Jahre alt, er 30. Sie suchen nicht nur Mesusot, sie suchen auch sich selbst. Circa 15 000 Juden leben heute in Polen, die meisten in Warschau. Wenn man bei dem alten Bild bleiben will, dass jemand nach seinen Wurzeln sucht, dann hocken Polens Juden nicht am Fuß eines dicken Stammes und wühlen in der Erde. Dann hängen sie eher irgendwo in der Baumkrone und tasten sich an Luftwurzeln entlang.

"Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mir das frei ausgesucht habe"

Czernek war Anfang 20, als sie das erste Mal in die Synagoge ging, zusammen mit ihrer Mutter, die vorher selbst bislang nur in katholischen Kirchen gewesen war. Czerneks Großvater war Jude. Nach dem Ende des Sozialismus beginnen die verschiedenen Generationen ihrer Familie zeitgleich ihre Suche. "Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mir das frei ausgesucht habe", sagt Czernek, "es ist unsere Verantwortung, jetzt die Fäden wieder aufzunehmen. Wenn das erst unsere Kinder tun, ist es zu spät."

Der Warschauer Rabbiner Stas Wojciechowicz begleitet jedes Jahr gut zwanzig Menschen in den Konversionskursen der liberalen Ec Chaim Synagoge. Das große Interesse junger Polen am Judentum überrascht ihn selbst. "Ich nehme an, dass die Menschen einen spirituellen Sinn suchen, den sie im Katholizismus nicht zu finden scheinen," sagt Wojciechowicz.

Ihren Freund, Aleksander Prugar, lernte sie über einen Verein kennen, der halb Jugendtreff, halb religiöse Bildungsstätte ist. Das Moishe-Haus, ein von den USA aus finanzierter Mini-Kibbuz, hilft jungen Juden in Warschau, die Grundlinien ihrer Religion zu verstehen. Als Prugar ins Moishe-Haus kam, war er sich selbst nicht sicher, was Jüdischsein für ihn bedeutet. Er war sich noch nicht einmal sicher, ob es in seiner Familie überhaupt Juden gab. Bis heute hat er sich nicht getraut zu fragen. Er weiß nur, dass er sich jüdisch fühlt. Seit ein paar Monaten besuchen Czernek und Prugar die Reform-Synagoge von Warschau. Sie wollen konvertieren.

Und sie haben sich entschieden, ihrer inneren Suche eine äußere Form zu geben. "Wir sind das erste jüdische Start-up Polens", sagt Prugar. Er ist Fotograf, Czernek Designerin. Vor einem halben Jahr haben sie gemeinsam "Mi Polin" gegründet. "Po lin" heißt auf hebräisch "ruh dich hier aus". Einer Legende nach hörten die ersten jüdischen Siedler in Polen vor 1000 Jahren ein Flüstern im Wald: "Po lin", und ließen sich nieder.

Aus der Botschaft dieser Legende, dass Juden zu Polen gehören, haben Czernek und Prugar ihr Mini-Unternehmen entwickelt. Sie verkaufen Judaika, made in Poland: Chanukka-Leuchter, Mesusot und kleine Papierblumen, die an den Aufstand im Warschauer Ghetto erinnern. Jeden Morgen schieben sie ihre Ausziehcouch zusammen, und ihr Schlafzimmer wird zum Büro. Vor eineinhalb Jahren haben Czernek und Prugar den ersten Bronzeabdruck einer Mesusa angefertigt, inzwischen sind 15 Abdrücke aus ganz Polen hinzugekommen. Sie verkaufen ihre Mesusot bis in die USA.

Wenn am Dienstag Steven Spielberg nach Polen kommen wird, um an den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz teilzunehmen, wird ihm die Jüdische Gemeinde Warschau ein Willkommensgeschenk machen: eine "Mi Polin"-Mesusa. Dazu gibt es eine Broschüre, die erklärt, woher der Abdruck stammt. Gemeinsam mit Archivaren und Stiftungen tragen die beiden Mesusa-Sucher so viele Informationen wie möglich zusammen; über die Häuser, in denen sie fündig wurden, und über die Menschen, die in ihnen lebten.

In Warschau sind die Mesusot am schwierigsten zu finden. 1944 sprengte die deutsche Wehrmacht die Stadt Straße für Straße in die Luft. Das verfallende Haus in der Ulica Próżna ist eines der wenigen, das noch aus der Vorkriegszeit erhalten ist. Die Sanierung steht kurz bevor, die Zeit drängt. Ob es nicht einfacher wäre, sich von der Stadtverwaltung oder der Baufirma die Genehmigung zu holen? "Das würde ja ewig dauern, bis man so eine Genehmigung hätte", sagt Czernek.

Jahrzehntelang ging es nur um jüdisches Sterben. Nun geht es ums Leben

Wenn die beiden losziehen, um Türrahmen abzuklopfen, freuen sich die Menschen, erzählt Czernek: "Weil die meisten glauben, wir würden irgendetwas reparieren." Im ehemals jüdischen Viertel von Krakau, in Kazimierz, baute sich einmal ein stiernackiger Glatzenträger vor ihnen auf, als die beiden dort in einem Hausflur Paste und Werkzeug auspackten. Was sie da machen würden. Etwas Jüdisches, erklärte Czernek. Ob sie dafür die Sticker seines Fußballclubs Wisła Krakau abkratzen würden, mit denen er den Flur beklebt hatte? Nein, die Sticker könnten bleiben. Befriedigt verschwand der Nacken wieder in seiner Wohnung.

Prugar und Czernek erzählen gerne solche Abenteuer- und Erfolgsgeschichten. Doch dann sagt Prugar, zwischen Schlafcouch und Mesusa-Stapeln im "Mi Polin"-Büro: "Wollen wir über Antisemitismus reden?" Weil er weiß, dass deutsche Gäste früher oder später danach fragen. Weil er weiß, dass viele Menschen nicht verstehen, wie man sich als Jude in Polen wohlfühlen kann.

Zu Jahresanfang, erzählt Prugar, konnte man bei der polnischen Post einen Kalender kaufen, der jeden Monat das gleiche Motiv zeigte: Ein Mann mit Schläfenlocke, Bart und großer Nase, ganz antisemitisches Klischee, der ein Geldstück hält. "Der Jude mit der Münze" - ein traditioneller Glücksbringer in Polen. Manche hängen die Münz-Juden-Bilder falsch herum an die Wand, damit "dem Juden das Geld aus der Tasche fällt". Während Prugar erzählt, hält er Blickkontakt. Er will sehen, wie dem Gegenüber der höflich-interessierte Reporter-Blick entgleitet.

"Das sind nur Bilder", sagt Prugar. "Ja, aber diese Bilder sind nicht in Ordnung", sagt Czernek. Die meisten polnischen Medien waren Czerneks Meinung. Die Post ging mit einigem Image-Schaden ins Neue Jahr. Das ist der Grund, warum Prugar die Geschichte vom Münz-Juden erzählt. Um zu zeigen, dass über Antisemitismus in Polen debattiert wird. Dass er nicht unkommentiert stattfindet. "Ich habe mich eigentlich nie diskriminiert gefühlt", sagt Czernek.

Das Problem in Polen ist weniger, dass Juden offen angefeindet werden. Aber über ihren Anteil an Polens Geschichte und Gegenwart wurde 70 Jahre lang meist geschwiegen. Auch wenn der Westen auf Polen schaute, ging es lange nur darum, an jüdisches Sterben zu erinnern. Prugar und Czernek erinnern an jüdisches Leben. Außerhalb von Museen. "Wir machen Gegenstände, die die Menschen nutzen können", sagt Czernek. "Damit sie sehen, dass das Judentum hier wieder lebendig wird."

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Quelle:
SZ vom 26.01.2015/fued
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