Süddeutsche Zeitung

Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg:Netanjahus Großmufti-Theorie

  • Netanjahu zu Holocaust: Hitler habe die Juden nur aus Deutschland ausweisen wollen, erst der palästinensische Großmufti Amin al-Husseini habe ihn aufgefordert, sie zu "verbrennen".
  • Die Theorie, die den Palästiensern eine Mitschuld am Holocaust zuschreibt, ist in Israel sehr beliebt, sagt Historiker Tom Segev. Historisch ist sie nicht zu belegen.

Von Ronen Steinke

Kurz vor seinem Abflug nach Berlin, auf dem Rollfeld des Flughafens in Tel Aviv, rief Israels Premierminister Benjamin Netanjahu am Mittwoch die Journalisten zusammen, um eine Klarstellung zum Thema Adolf Hitler abzugeben.

Es bestehe kein Zweifel, so der Premier, dass Hitler der Verantwortliche für die "Endlösung" gewesen sei. Dass also er die Entscheidung zur Vernichtung der europäischen Juden getroffen habe.

Doch sei es "absurd", wenn heutige Akademiker ausblendeten, welche Rolle damals auch der palästinensische Großmufti von Jerusalem gespielt habe, Amin al-Husseini. Dieser erst habe Hitler zu dessen Beschluss "ermutigt".

Kleiner rhetorischer Sprengsatz

Der kleine rhetorische Sprengsatz, mit dem sich Netanjahu so nach Berlin verabschiedete, rührt an den Kern des Selbstverständnisses von Israelis und Palästinensern: Netanjahu weist den Palästinensern eine Mitschuld am NS-Völkermord zu, dessen Folge die Gründung des Staates Israel war.

Die Großmufti-Theorie hat Netanjahu schon 2012 einmal verbreitet. Sie ist überhaupt beliebt in Israel, wie der israelische Historiker Tom Segev beklagt. Vor allem in den Anfangsjahren des Staates erschienen viele Bücher, die Husseini zum Kriegsverbrecher stilisierten, der vor das Nürnberger Tribunal gehört hätte.

Bei einem Auftritt am Mittwochmorgen in Jerusalem hatte Netanjahu eine Begegnung zwischen Hitler und Husseini, die im November 1941 in Berlin stattfand, so geschildert: "Hitler wollte die Juden damals nicht vernichten, er wollte die Juden ausweisen."

Der Mufti habe gesagt: "Wenn Sie sie deportieren, kommen sie hierher (nach Palästina)." Hitler habe entgegnet: "Was soll ich also mit ihnen machen?" Husseini habe geantwortet: "Verbrennen Sie sie."

Historisch ist daran wenig mehr belegt als die Tatsache, dass es am 27. November 1941 ein Treffen der beiden Männer gab. Der scharf antisemitische Großmufti war als Ehrengast Hitlers in Berlin hofiert und in einer "arisierten" Villa einquartiert worden. Hintergrund war, dass die Nazis auf ein Bündnis hofften.

Als Hitlers Ideologe Alfred Rosenberg die "heftige geistige Angriffsstimmung in den islamischen Zentren" lobte, "geführt vom fanatischen Geiste Mohammeds", da hatte er gemeinsame Feinde im Sinn - Juden und Briten.

Aber nahmen die Nazis den Mufti je als Ratgeber ernst? Und brauchte es 1941 noch Überredung von außen, um ihren Plan für den Holocaust in Gang zu setzen? Die Entscheidung dazu war bereits im Sommer 1941 gefallen, schon im Mai hatte der SS-Führer Reinhard Heydrich in Polen Massenmord-Befehle ausgegeben, in denen von "Endlösung" die Rede war.

Nach allem, was die Historiker Klaus-Michael Mallmann und Martin Cüppers aus NS-Akten über den Großmufti rekonstruiert haben ("Hakenkreuz und Halbmond", 2006), gab Hitler seinem arabischen Gast im November 1941 allenfalls noch seine Absicht bekannt, "die Judenfrage zu lösen".

Israelische und arabische Historiker kritisieren Netanjahu

Die Chefhistorikerin der staatlichen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, Dina Porat, sagte laut israelischen Medien am Mittwoch, es sei historisch "nicht wahr", dass Hitler den Beschluss zur Judenvernichtung erst aufgrund des Gesprächs mit dem Großmufti gefasst habe. Auch der israelische Oppositionsführer Isaac Herzog sprach von Geschichtsverdrehung.

Der Leiter der Vereinigten Liste arabischer Abgeordneter, Ayman Odeh, warf Netanjahu vor, er wolle "die Geschichte neu schreiben, um gegen das palästinensische Volk zu hetzen". Das instrumentalisiere "die Opfer des Nazi-Monsters, unter ihnen Millionen Juden".

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SZ vom 22.10.2015/odg
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